50 Jahre Frauenstimmrecht: Historikerin Caroline Arni räumt auf mit der Schönfärberei

«Es war der reine Unwille der Männer»

Marie-Josée Kuhn

Es hätte gar keine Volksabstimmung gebraucht, um das Frauenstimm- und -wahlrecht in der Schweiz einzu­führen. Das Bundesgericht hätte es auf die Verfassung gestützt tun können. Oder das Parlament. Doch das wollten die Schweizer Männer nicht. So kam es zur ­Chronifizierung eines Unrechts, sagt Historikerin Arni.

LANGER WEG. 100 Jahre kämpften die Schweizerinnen darum, das Stimm- und Wahlrecht zu erhalten. Und der Kampf um Gleichstellung ist noch lange nicht vorbei. (zum Vergrössern klicken)

work: Caroline Arni, das allgemeine Männerstimm- und -wahlrecht führte die Schweiz mit der Gründung des Bundes­staates 1848 ein. Dann regierten die Männer 123 Jahre allein. Warum schlossen sie die Frauen so lange aus der Politik aus?
Caroline Arni: Die Männer wollten ihre politischen Rechte nicht mit den Frauen teilen. So simpel ist das. Gelegenheiten, das Frauenstimmrecht früher einzuführen, hätte es gegeben. Doch mal hiess es, die Frauen seien zu emotional für die Politik, mal diese sei zu schmutzig für sie, den Frauen mangle es an staatsbürgerlicher Reife, sie müssten sich ihre politischen Rechte erst verdienen – oder es fehle ihnen der Degen für die Landsgemeinde. In den Kantonen sagte man, der Bund solle vorangehen, dort hiess es, die Kantone seien zuerst dran. Es liess sich immer etwas finden. Aber gerade die Menge an Gründen, das Hin und Her zeigen: es war der reine Unwille der Männer, wie es die Historikerin Beatrix Mesmer einmal formuliert hat

Historikerin Caroline Arni. (Foto: Anna Schmidt)

Ein Anti-Frauenstimmrechts-Plakat von 1920 zeigt eine hässliche, ausgemergelte Frau am Referieren, ein richtiges «Mannsweib». Titel des Plakats: «Wollt ihr solche Frauen?» Wovor hatten die Gegnerinnen und Gegner des Frauenstimmrechts denn so Angst?
Politik galt als Männersache. Und wenn nun auch die Frauen politisierten, dann würden sie vermännlichen. Das Plakat arbeitet mit Ängsten. Womöglich könnten umgekehrt dann die Männer verweiblichen und das tun müssen, was als Frauensache galt: Hausarbeit! Wir kennen Darstellungen aus der Zeit um 1900, die genau diese Angst inszenieren. Auf denen haben die Frauen die Hosen an, und die Männer stehen am Waschtrog.

So richtige Waschlappen, halt?
(Lacht) Genau! Ein anderes Anti-Frauenstimmrechts-Plakat von 1927 ist noch dramatischer. Unter dem Titel «Mutter macht Politik» sehen wir ein Kind schreiend am Boden, offenbar ist es aus dem Stubenwagen gefallen, doch niemand merkt’s – weil die Mutter politisiert und Familie und Haushalt vernachlässigt. Mit solchen Argumenten kämpften übrigens nicht nur die Gegner gegen das Frauenstimmrecht. Sondern auch die Gegnerinnen.

Haben solche Plakate die Stimmrechtskämpferinnen nicht erzürnt? Wie reagierten sie? Immerhin verlangte das Landesstreikkomitee das Stimm- und Wahlrecht für Frauen bereits 1918.
Solche Plakate waren schon eine Zumutung, sie drängten die Stimmrechtlerinnen in die Ecke. Sie mussten beteuern, dass sie auch mit Stimmrecht Frauen im verlangten Sinne bleiben und die ihnen zugeteilte Arbeit verrichten würden.

Wie die Stimmrechtsfrauen reagiert haben? Auf jede nur erdenkliche Art. In all den Jahren probierten sie jedes Argument aus. Sie beschwichtigten, sie argumentierten mit Gerechtigkeit, sie sagten, es sei wichtig, dass die Frauen eine spezifische Sichtweise in die Politik einbringen könnten usw.

Sie organisierten sich und griffen zu den unterschiedlichsten Kampfmitteln. 1929 reichte der Schweizerische Verband für Frauenstimmrecht eine Petition ein. Sie wurde unterstützt von anderen Frauenorganisationen, auch von der SP und den Gewerkschaften. Mit den weit über 200’000 Unterschriften wollten die Frauen auch zeigen: Schaut her, wir sind viele! Denn ein Argument der Gegner war immer wieder, man wisse ja gar nicht, ob die Frauen das Stimmrecht überhaupt wollten.

Das ist natürlich kein Argument, schliesslich hat man das Männerwahlrecht auch ohne Befragung der Männer eingeführt. Und umgekehrt hat man die Frauen nie gefragt, ­ob sie Staatsbürgerinnen zweiter Klasse sein wollten.

work-Extra zu «50 Jahre Frauenstimmrecht»:

Wer hat das Frauenstimmrecht in der Schweiz eigentlich zuerst gefordert?
1833 erschien in der Zeitschrift «Das Recht der Weiber» ein Artikel des Journalisten Johann ­Jakob Leuthy. Er forderte darin die bürgerlichen und politischen Rechte für die Frauen. Die Zeitschrift erschien nur ein einziges Mal. Dann taucht die Forderung vereinzelt auf. Auch in den 1860er Jahren, im Umfeld der demokratischen Bewegung. Diese kämpfte unter anderem für direktdemokratische Instrumente, also für Initiative und Referendum. Und hier traten auch Frauen auf und verlangten politische Rechte. Vor allem aber eine ­Besserstellung in zivilrechtlichen und erbrechtlichen Fragen.

Was heisst das?
Die verheirateten Frauen waren damals der sogenannten ehemännlichen Gewalt unterstellt. Sie konnten nicht frei handeln. Und die unverheirateten Frauen stellte man in vielen Kantonen unter Geschlechtsvormundschaft. Ohne ihren Vormund konnten sie weder ihr Vermögen selber verwalten noch Verträge schliessen oder einen Hof eigenständig führen. Für verwitwete Bäuerinnen etwa war das ein grosses Problem. Im Emmental setzten sie sich bereits in den 1840er Jahren dagegen zur Wehr. Mit Erfolg! Sie formulierten eine Petition, und ihre Forderungen wurden 1847 im bernischen «Emanzipationsgesetz» umgesetzt. National fiel die ­Geschlechtsvormundschaft dann 1881.

Verstehe ich das richtig, das Erlangen ökonomischer Rechte war für die Frauen im 19. Jahrhundert fast wichtiger als das Erlangen der politischen Rechte?
Ja, im 19. Jahrhundert standen die ökonomischen oder auch sozialen Rechte für viele Frauen im Vordergrund – aus guten Gründen. Doch es gab auch Frauen, die die politische Gleichstellung forderten. Zum Beispiel die ­Genfer Uhrmacherstochter Marie Goegg-Pouchoulin. Sie gründete 1869 die «Association internationale des femmes» und 1872 zusammen mit Julie von May in Bern die «Association pour la défense des droits de la femme». Das waren die ersten feministischen Organisationen in der Schweiz.

Und dann kommt die Zürcherin Emilie Kempin-Spyri, eine zentrale Figur in der Geschichte des Frauenstimmrechts. Sie war die erste Schweizerin, die ein Jusstudium absolvierte, durfte aber als Anwältin im Kanton Zürich nicht praktizieren. Weil die Zulassung ans Stimmrecht geknüpft war. Also geht sie vor Bundesgericht. Und argumentiert, die politischen Rechte müssten den Frauen gar nicht gegeben werden. Weil sie sie nämlich schon hätten. In der Verfassung stehe, es gebe keine Vorrechte von Geburt, alle Schweizer Bürger seien gleich. Und in diesem generischen Maskulinum seien die Frauen mitgemeint wie in allen Rechtstexten. Deshalb sei sie jetzt hier und verlange ihre bisher ungenutzten politischen Rechte!

Den Frauen hat es an allen Ecken und Enden an ­Rechten gefehlt, nicht nur am Stimm- und
Wahlrecht.

Ein cleveres Argument, oder?
Ja! Die Bundesrichter waren ziemlich verdattert und nannten Spyris Verfassungsinterpretation «ebenso neu als kühn». Trotzdem wiesen sie das Begehren ab: Es verstosse gegen die historische Interpretation. Spyris Gang vor Bundesgericht ist deshalb so zentral, weil er zeigt: Um das Frauenstimmrecht einzuführen, hätte es andere Wege gegeben als eine Volksabstimmung. Das Bundesgericht hätte es auf dem Weg der Verfassungsinterpretation bestätigen können. Das Parlament hätte per Gesetz aktiv werden können. Da drohte dann natürlich das Referendum und damit eine Volksabstimmung. Doch dass es zwingend eine Verfassungsänderung und damit eine Volksabstimmung brauche, war nicht festgelegt. Das macht die Historikerin Brigitte Studer in ihrem neuen Buch deutlich. Und ein Urnengang war klar die grösste Hürde.

In Grossbritannien erlangten die Frauen das Stimm- und Wahlrecht bereits 1918. In Deutschland und Österreich ebenfalls. Warum ging es in unseren Nachbarländern so viel schneller?
Dort erfolgte die Einführung des Frauenstimmrechts häufig dann, wenn es zu einem politischen Bruch kam. Wenn ein Staat sich neu verfasste, zum Beispiel. Wenn man sich von der unmittelbaren Vergangenheit absetzen und ein Zeichen des Fortschritts und der Modernität setzen wollte. Solche Brüche gab es in der Schweiz nicht. Seit 1848 ist die Schweizer Geschichte durch Kontinuität gekennzeichnet, mit Blick auf die politischen Institutionen und die Verfassung. Es fehlen Momente, wo so ein Reingrätschen möglich gewesen wäre. Auch der Landesstreik, der das Frauenwahlrecht im Forderungskatalog hatte, konnte kein solches Momentum entfalten. Er war rasch beendet und wurde als Revolutionsversuch abqualifiziert. Damit hatte die Stimmrechtsforderung der Frauen den Ruf einer bedrohlichen, sozialistischen Forderung.

Und damit war sie wieder für Jahre vom Tisch?
Ja. Wir können von der Chronifizierung eines Unrechts sprechen. Dieser Verlauf, wo Opportunitätsfenster nicht gross genug sind, sich gar nicht auftun oder rasch geschlossen werden. Das ist die Geschichte des Frauenstimm- und -wahlrechts in der Schweiz.

FEINDINNENBILDER: Mit Teppichklopfer (1946) und Diskutantin (1920) traten die Gegner des Frauenstimmrechts an – und hatten Erfolg. (Fotos: Otto Baumberger, Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung ZHdk / © 2018, Prolitteris, Zurich.)

Was sagen Sie zur These, die Stimmrechtsbewegung sei eine bürgerliche Bewegung gewesen? Die Stimmrechtskämpferinnen kamen ja meist aus gutem Hause.
Wenn wir die Stimmrechtsvereine anschauen, trifft das sicher zu. Doch auch sie waren heterogen zusammengesetzt. Es gab Frauen aus dem Grossbürgertum, Frauen aus dem Kleinbürgertum, Frauen aus dem Gewerbe usw. Die ­Arbeiterinnenbewegung hatte das Frauenstimmrecht sehr wohl auch auf der Agenda, und sie pflegte neben vielen Differenzen auch Allianzen mit den bürgerlichen Frauen. Das hat Historikerin Elisabeth Joris gezeigt. Sie argumentiert auch zu Recht, dass die Kategorisierung in bürgerliche und proletarische Frauenbewegung zu holzschnittartig sei. Die Männer in der Arbeiterbewegung jedenfalls haben die Feministinnen in ihrer Mitte nicht gerade gefördert. Im Gegenteil!

Dazu gibt es eine wunderbare Fallstudie der Historikerin Béatrice Ziegler. Sie zeigt, wie in Biel die Sozialdemokratische Partei die Arbeiterinnenbewegung in sich aufsog. Mitsamt ihren spezifische Anliegen. Später sprachen linke Feministinnen ja dann auch von «roten Patriarchen», die es in der Arbeiterbewegung – neben den Verbündeten – eben auch gab. Sie brachten den Haupt- und Nebenwiderspruch in Stellung und deklarierten die Frauenbewegung als bürgerliche Bewegung, die es eigentlich nicht braucht.

Die Arbeiterbewegung integrierte die Arbeiterinnenvereine und löste sie so auf, mitsamt ihren Anliegen.

Dennoch führten Arbeiterinnen doch aber auch Gleichstellungskämpfe, oder?
Ja! Zum Beispiel die 59 Zigarrenarbeiterinnen, die 1907 in Yverdon streikten. Der Fabrikherr hatte 7 Arbeiterinnen auf die Strasse gestellt, die es gewagt hatten, eine Gewerkschaftssektion zu gründen. Dagegen protestierten ihre Kolleginnen und forderten mehr Lohn und eine Arbeitszeitverkürzung. Die Gewerkschaft der Lebens- und Genussmittelarbeiter rang sich übrigens nur deshalb zu einer Unterstützung durch, weil die Frauen auf eine Entschädigung aus der Streikkasse verzichtet hatten.

Und wie reagierte der Fabrikbesitzer? Er wies die städtische Kinderkrippe an, die Kinder der Frauen nach Hause zu schicken. Und er bot den streikbrechenden Arbeitern genau die Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung an, die die Frauen für sich gefordert hatten. In der «Arbeiterinnenzeitung» erscheint dann ein ­Artikel mit dem Titel: «Vier Mal Sklavin ist heute die in Abhängigkeit arbeitende Mutter»: Sklavin des Fabrikanten, der die arbeitende Mutter aussperrt und ihr eine andere Anstellung verunmöglicht. Sklavin des Mannes, der über den Familienwohnsitz verfügt und sie vom Erwerb anderswo abhält. Sklavin des Kindes, das ihre stete Aufmerksamkeit verlangt ­und sie an die Wohnung kettet. Und schliesslich Sklavin des Staates, der Steuern einfordert und Soldaten. Und der diese Soldaten dann losschickt gegen die eigenen Mütter, wenn diese ihre Rechte fordern. Dieser Text hat eine ungeheure Wucht und zeigt: den Frauen hat es an allen Ecken und Enden an Rechten gefehlt, nicht nur am Stimm- und Wahlrecht.

Ohne Mann ist die Frau nichts, leistet aber die Reproduktionsarbeit?
Genau. Die Empfindung eines Missverhältnisses zwischen dem, was die Frauen real leisten, und der Nichtanerkennung, die sie erfahren, treibt feministische Kämpfe an. Bis heute.

Was wird in zehn Jahren sein?
Ich bin Historikerin, und darum sage ich: In zehn Jahren wird nicht so viel passieren. Allerdings ist in den letzten Jahren ziemlich viel passiert. Es ist den Frauen gelungen, das zen­trale Thema «Care-Arbeit» wieder auf die politische Agenda zu bringen. In den 1970er Jahren viel diskutiert, verschwand es in der ­Zwischenzeit. Jetzt ist es wieder da. Auch dank dem Frauenstreik. Wir erleben seit einigen Jahren eine feministische Konjunktur, und gerade deshalb ist es wichtig zu wissen, dass die Bewegung nicht mit #MeToo begonnen hat. Ich habe kürzlich selbst gestaunt, als ich im So­zialarchiv eine Grafik von 1978 fand. Darauf macht eine Frau das Vulva-Zeichen. Auch das gab es also schon!

Caroline Arni ist Professorin am Departement Geschichte der Universität Basel. Sie wurde 1970 in Solothurn geboren. An der Universität Bern studierte sie Schweizer Geschichte, Neuere Geschichte und Soziologie. Sie machte mehrere Forschungsaufenthalte im Ausland (Paris, Essen, Princeton). Caroline Arni befasst sich unter anderem mit der Geschichte des ­Feminismus.

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