Anne-Sophie Zbinden

Editorial

Anne-Sophie Zbinden ist die Chefredaktorin von work.

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Völker, hört die Signale!

Joe Biden schläft nicht. Kaum im Oval Office, will er auch schon die Steuern erhöhen. Das wäre dann das erste Mal seit den 1980er Jahren, dass ein US-Präsident sich das traut. Und das Beste daran: Biden will nicht die Kleinen schröpfen, sondern die Konzerne zur Kasse bitten. Er möchte die Gewinnsteuer von 21 auf 28 Prozent erhöhen. Am Schluss darf’s dann wohl ein bisschen weniger sein. Und doch wär’s ziemlich kitzlig. Ver­glichen mit den Steuer­sätzen in den Schweizer Steuerparadiesen Zug oder Nidwalden nämlich glatt eine Verdoppelung.

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Die Elefanten

Eigentlich sind sie überhaupt nicht für diese Jobs gemacht. Jedenfalls nicht als Reittiere. Ihr Rücken hält’s auf die Dauer nicht aus. Und sie sind Wildtiere. Stattdessen werden sie gewaltsam gezähmt: die dressierten Elefanten. Zwischen 3000 bis 4000 leben und arbeiten allein in Thailand. Und was sie alles schon mussten: Kriegselefanten sein im Dienste des Königs. Holzarbeiter-Elefanten sein und mithelfen, just jenen Dschungel abzuholzen, der einst ihre Heimat war. Und heute müssen sie Lastesel spielen für die Touristinnen und Touristen. Diese ergötzen: Fussball spielen, «Männchen machen», Wasser spritzen oder zeichnen. Mit ihrem Rüssel. Mit diesem rund 60'000 Muskeln starken Allzweckorgan. Umgerechnet bis zu 900 Franken im Monat spielen die Dickhäuter ihren Halterinnen und Haltern so ein. Besser gesagt: sie spielten. Denn seit Corona sind die Strände von Pattaya & Co. leer. Und die Elefanten arbeitslos.

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Alles ist ­möglich

In diesen Zeiten ist alles möglich: plötzlich exponentielles Wachstum der Ansteckungen, plötzlich Mutanten­viren, plötzlich 2000 Tote an einem einzigen Tag. So geschehen in Brasilien. Dessen neofaschistischer Präsident Jair Bolsonaro ist ein Corona-Leugner und zieht jetzt auch noch gegen die Corona-Impfung in den Krieg. Bereits drei Gesundheitsminister hat er erledigt, der vierte folgt sogleich. Plötzlich ist alles möglich, denn die Pandemie hat unser ganzes Leben verändert. Wir gehen uns aus dem Weg, wir tragen Masken, das Feierabendbier war gestern, die Ferien sind am Nimmerleinstag, wenn überhaupt. Ist Kurzarbeit, ist Homeoffice, sind Schnelltests, Spucktests, sind plötzlich ganz viele neue Wörter da – und weder Parties noch Grossdemos. Wegen Corona streiken die Metaller in Deutschland mit den Schuhen. Dort, wo Siemens Stellen abbauen möchte, stellen sie sie vors Werkstor: Tausende Turn-, Arbeitsschuhe und rosa Gummistiefel.

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Wille und Wahn

Seit Monaten müssen sie mit einem Fünftel Lohn weniger auskommen: die Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter. Für die Coronakrise können sie nichts, aber die Kurzarbeitsentschädigung der Arbeitslosenversicherung übernimmt in der Regel nur 80 Prozent des Lohnausfalls. Für Serviererin Laura García Soler heisst das minus 600 Franken im Monat. Seit Dezember lebt sie von 2800 Franken. Netto! Sogar fürs Benzin reicht’s jetzt nicht mehr. Weil sie noch ihre Eltern in Spanien unterstützt. Und weil Soler auch kein Trinkgeld mehr macht. Bis zu 1000 Franken im Monat zusätzlich können das sein.

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Der Mensch ist, was er isst

Was essen die Bauarbeiter eigentlich zum Zmittag? Diese Frage poppte plötzlich an unserer Redaktionssitzung auf. Es folgten vier weitere Fragen: Kochen ihnen die Frauen heutzutage noch vor? Holen sie sich was beim Takeaway? Oder gehen sie in die Beiz? Und wenn sie das vor dem Lockdown taten, was machen sie jetzt? work-Autor ­Johannes Supe schaute ihnen in die Teller und schrieb dann den grossen Bau-Zmittag-Report. Da ist zum Beispiel Stipa K. (59), der auf der Baustelle am Thuner Bahnhof baut. Heute isst er Penne al ragù. Im Tupperware. Vorgekocht von seiner Frau. Dabei war der Maurer selber mal Militärkoch. Musste 1000 Männermäuler stopfen. Oder Polier Fritz I. (58): Heute isst er Bohnen, ­Wienerli und Spiralen. Er hat selber vorgekocht.

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Der Teppich­klopfer

Ein Teppichklopfer. Ein Teppichklopfer auf schwarzem Grund. Ein Teppichklopfer auf schwarzem Grund auf einem Abstimmungsplakat mit der Parole «Frauenstimmrecht Nein!». Das genügte vollends. Um den Schweizerinnen und Schweizern 1946 die männliche Postordnung durchzugeben: Politik ist Männer­sache, Frauen bleibt bei eurer Hausarbeit!

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Weg ist weg

Weg ist weg, immerhin! Endlich hat Twitter dem orangen Irren den Stecker gezogen. Und damit auch demonstriert, wer in den USA wirklich das Sagen hat. Nicht nur dort: Twitter, Google, Facebook & Co. regieren die Welt. Aber immerhin: Endlich ist Donald Trump stillgelegt. Als das Grossmaul am 6. Januar 2017 den Thron im Weissen Haus bestieg, zeichnete ihn der Schweizer Karikaturist Chapatte vor zwei roten Knöpfen sitzend. Der eine war angeschrieben mit «Twitter». Der andere mit «Nuke», Atombombe. Diese Bombe hat der Bombenleger in seiner Amtszeit nicht gezündet. Dafür taumeln die Staaten jetzt am Abgrund eines Bürgerkriegs. Der Putschversuch der Trump-Hörigen am Dreikönigstag hat’s dramatisch vor Augen geführt. Die alten (Sezessions-)Geister, die der Präsident rief, wird Washington DC nun so schnell nicht mehr los.

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Wir Lesel, wir!

Corona ist, wenn wir trotzdem lachen. Zum Beispiel mit dem ­deutschen Grafiker und Comedy-Künstler Micha Marx. In der ersten Welle im Frühling war ihm lang­weilig, und es entstanden seine ­Quarantierchen: die verschiedenen Menschentypen im Lockdown als tierische Ebenbilder. Die Videokonferente, der Toilettentapir, der Lesel, der Systemrelefant und eben das Quaranthähnchen. Alle zu bestaunen in diesem work. Und Hand aufs Herz, liebe Leserinnen und Leser: Erkennen Sie sich wieder?

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Schimpfen oder impfen?

Irgendwann kommen die militanten unter den Impfgegnerinnen und Impfgegnern immer zum Punkt, wo sie «Nazi!» austeilen, von «Nazi­methoden» reden und einem «Naziregime», das einem irgendwas aufzwinge. Masken zu tragen. Zu testen. Oder zu impfen. Doch nicht alle gehen grad so weit wie Jana aus Kassel. Sie trat kürzlich an einer Demonstration gegen Corona-Massnahmen in Hannover auf und verkündete: «Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten hier im Widerstand bin!» Die junge Jana verglich sich also mit einer Widerstandskämpferin gegen Hitler, die 1943 von der Gestapo verhaftet, dann zum Tode verurteilt und schliesslich hingerichtet wurde. Das Jana-Video ging viral und löste viel Empörung aus.

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Wer will, kann

Die Walliser Zeitung «Le Nouvelliste» hat derzeit etwa doppelt so viele Todesanzeigen wie gewöhnlich. Jeden Tag. Statt einer oder anderthalb Seiten deren drei bis vier. Längst nicht in allen Trauerschreiben steht der Grund für dieses ungebremste Sterben. Doch es hat einen Namen: Corona. Das Wallis ist immer noch trauriger Weltmeister bei den Corona-Infektionen. Der Südkanton liegt, pro 100'000 Bewohnerinnen und Bewohner berechnet, sogar noch vor den USA. Auch bei den Toten. Am 27. Oktober erreichte der Kanton den Peak: dramatische 888 neue Infektionen an einem Tag! Die Regierung zog die Notbremse und verordnete schärfere Schutzmassnahmen. Inzwischen ist die Covid-Kurve massiv abgesunken. Und zeigt: Wer will, kann Corona in den Griff bekommen.

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Armes, reiches kleines Land!

Exponentielles Wachstum wird häufig unterschätzt, weiss die Wissensmaschine Wikipedia. Und genau das passiert vielen in der zweiten Coronawelle. Die Fall­zahlen steigen derart rasant, dass Kantonsspitäler Alarm schlagen müssen. So in Freiburg: Im Viertelstundentakt fährt dort inzwischen der Rettungsdienst mit Coronakranken im Notfall vor. Die Pflegenden sind am Limit, schon wieder! Die Schweiz hat inzwischen pro Tag rund 6 Mal mehr Neuinfizierte als Deutschland. Verhältnismässig auf die Bevölkerungszahl gerechnet. Das ist unerhört. Und bisher auch ungehört. In Deutschland müssen jetzt für den November trotzdem alle Hotels, Restaurants usw. schliessen. Die Regierung bezahlt den geschlossenen Betrieben 75 Prozent des Vorjahresumsatzes. Und Finanz­minister Olaf Scholz sagt: «Es ist noch genug Geld da!» Und was sagt Ueli Maurer, Scholz’ Bruder im Amte? Der SVP-Bundesrat machte bisher auf Corona-Chaschperli und trötzelte: Maske? «Kä Luscht!» Corona-App? «Machi ä nöd!» Ein zweiter Lockdown? «Können wir uns nicht leisten!»

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Das Virus hat uns wieder

Und wie es uns hat! Diesmal macht es auch vor den Jodlern und Berglerinnen nicht Halt. Das Wallis ist jetzt Schweizer Meister bei den Fallzahlen. Und schon vor Tagen vermeldete der Kanton das Drama: 90 erkrankte Bewohnerinnen und Bewohner in 8 Pflegeheimen. Und 66 infizierte Pflegerinnen und Pfleger. Derweil musste sich in Schwyz die Spital­direktion mit einem Corona-Hilferuf an die Bevölkerung wenden: Sie könnten das «Spital nicht mehr stemmen», wenn es so explosiv weitergehe. Die zweite Coronawelle ist im Urschweizer Kanton erst die erste, dafür aber ein richtiger Tsunami.