Editorial

Alles ist ­möglich

Marie-Josée Kuhn

Marie-Josée Kuhn, Chefredaktorin work

In diesen Zeiten ist alles möglich: plötzlich exponentielles Wachstum der Ansteckungen, plötzlich Mutanten­viren, plötzlich 2000 Tote an einem einzigen Tag. So geschehen in Brasilien. Dessen neofaschistischer Präsident Jair Bolsonaro ist ein Corona-Leugner und zieht jetzt auch noch gegen die Corona-Impfung in den Krieg. Bereits drei Gesundheitsminister hat er erledigt, der vierte folgt sogleich. Plötzlich ist alles möglich, denn die Pandemie hat unser ganzes Leben verändert. Wir gehen uns aus dem Weg, wir tragen Masken, das Feierabendbier war gestern, die Ferien sind am Nimmerleinstag, wenn überhaupt. Ist Kurzarbeit, ist Homeoffice, sind Schnelltests, Spucktests, sind plötzlich ganz viele neue Wörter da – und weder Parties noch Grossdemos. Wegen Corona streiken die Metaller in Deutschland mit den Schuhen. Dort, wo Siemens Stellen abbauen möchte, stellen sie sie vors Werkstor: Tausende Turn-, Arbeitsschuhe und rosa Gummistiefel (Seite 10).

Berset, ein Berserker! Berset, ein Weichei!

DAUERBESCHUSS. In diesen Corona­zeiten ist wirklich alles möglich: Ein Immunologieprofessor, der nach einer Hirnoperation und mehreren Hirnschlägen und epileptischen Anfällen und einer Lungenentzündung aus dem plötzlichen Koma erwacht und hört: «Guten Tag, Sie haben grad Covid-19 überlebt!» Er heisst Beda Stadler. Eine Sägeblattfabrik, die den grössten Boom aller Zeiten geniesst, weil die Do-it-yourself-Fans in der Pandemie zu Hause plötzlich basteln wie die Wilden. Sie heisst Scintilla (Seite 11). Und ein Bundesrat, der seit einem Jahr unter Dauerbeschuss steht. Er heisst Alain Berset. Berset soll endlich durchgreifen! Berset ist ein Diktator! Gesundheitsminister Berset, ein Berserker! Ein Weichei! Soll gehen! Soll kommen! In diesen Coronazeiten ist einfach alles möglich. Bei vielen Medien morgen auch das Gegenteil der dicken Schlagzeile von gestern: zu hart, zu weich, zu breit, zu schmal, zu lasch, zu harsch: die Corona-Massnahmen. Macht endlich die Terrassen auf! Macht endlich die Läden zu! Testen, Testen, Testen! Pieks, Pieks, Pieks! Oder umgekehrt! Je nachdem, was grad passt. Je nachdem, wer grad einflüstert.

LINKSUMKEHRT. Seit Jahrzehnten stemmt sich die FDP vehement gegen alle Vorstösse, die eine stärkere staat­liche Beteiligung an der Impf- und Medikamentenproduktion in der Schweiz verlangen. Zum Beispiel eine Volksapotheke. Damit wir in der Krise nicht von internationalen Multis abhängig wären. Wie jetzt. Doch nun schreit der Freisinn plötzlich linksumkehrt nach mehr Staat. Und beschuldigt das Bundesamt für Gesundheit (BAG), ein Angebot der Lonza für eine eigene Impfstrasse fahrlässig ausgeschlagen zu haben (Seite 8). In diesen Coronazeiten ist einfach alles möglich. Selbst schon wieder ein Editorial über Corona.

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