Editorial

Unerträgliche ­Ungewissheit

Anne-Sophie Zbinden

Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Das Dorf Fairbourne liegt an der malerischen Küste von Wales, Grossbritannien. 2014 meldete der Nachrichtensender BBC Wales: Fairbourne lasse sich nicht länger gegen das Meer verteidigen. Schon 2025 müsse es aufgegeben werden. Später zeigten sich die Behörden bereit, den schützenden Damm noch bis 2054 aufrechtzuerhalten. Danach wird das Dorf dem Meer überlassen. Die Klimakrise (zu der sich auch Baubüezer Käch, unser neuer Kolumnist,  Gedanken macht) führt zu steigenden Meeresspiegeln, häufigeren und extremeren Stürmen. Deshalb wird Fairbourne nicht mehr bewohnbar sein, die rund tausend Einwohnerinnen und Einwohner müssen ihre Häuser verlassen. Werden sie die ersten europäischen Klimaflüchtlinge?

AUSWANDERERLAND. Klimakrise, Krieg, Terror: alles legitime Gründe, die Heimat zu verlassen. Aber auch: keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit. Kein Mensch migriert aus purer Lust am Abenteuer, sondern weil er für sich und seine Familie keine Zukunftsperspektive sieht. Diese sahen bis vor gut 130 Jahren viele Schweizerinnen und Schweizer in ihrer Heimat auch nicht. Rund 12 Prozent der Bevölkerung verliessen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Land. Um diese fehlenden Arbeitskräfte zu ersetzen, wurden ab 1888 Migranten mit offenen Armen empfangen. Die Schweiz wurde vom Auswanderer- zum Einwandererland.

Seither tragen Migrantinnen und Migranten zu unserem Reichtum bei. Insbesondere zum Reichtum der Konzernchefs und ihres Aktionariats. In den wirtschaftlichen Boomjahren nach dem Zweiten Weltkrieg diktierten die Firmen dem Bundesrat die Ausländerkontingente. Sie riefen nach Arbeitskräften, aber nicht nach Menschen, und schon gar nicht nach Kindern. In den 68 Jahren unter dem unmenschlichen Saisonnierstatut lebten bis zu zwei Millionen Kinder von ihren Eltern getrennt oder versteckt in Schweizer Wohnungen. Wie die Italo-Zürcherin Catia Porri (72), die anderthalb Jahre ihrer Kindheit versteckt in einem Mansardenzimmer verbrachte.

DAUERPROVISORIUM. Der menschenunwürdige Umgang mit Migrierenden in der Schweiz ist aber keineswegs Geschichte. Zum Beispiel beim Status F, den die Asylbürokratie 1987 kreiert hat. Für Flüchtlinge, die zwar nicht als solche anerkannt sind, jedoch auch nicht zurückgeschickt werden können. Sie sind «vorläufig aufgenommen». Dabei ist «vorläufig» ein Hohn, denn viele leben oft jahrelang im Dauerprovisorium, von einer minimalen Asylfürsorge. Sie dürften zwar arbeiten, finden aber keine Jobs, denn sie leiden an Status F. Es sei, wie wenn man einem Hungrigen einen vollen Teller vorsetzen würde, er aber nicht essen dürfe. So beschreibt der Syrer Karim sein Leben als «Vorläufiger».

Fakt ist: Die Schweiz braucht Migrantinnen und Migrantinnen, die pflegen, pflücken und bauen. Fakt ist auch: Die globale Migration wird weiterhin zunehmen, Fairbourne lässt grüssen. Damit müssen wir besser umgehen (lernen). Denn: Menschenunwürdige Zustände wie das Saisonnierstatut, Status F oder Sans-papiers sind der Schweiz unwürdig

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