Rund 50 000 Kinder mussten sich wegen des Saisonnierstatuts in der Schweiz verstecken – fünf Mal mehr als bisher angenommen.
HEIMKEHR: Eine spanische Arbeiterin wartet in Basel mit ihren Kindern auf das Flugzeug nach Hause. (Foto: Keystone)
Ihren ersten Schultag in der Schweiz wird Catia Porri nie vergessen, damals 1962. Der Lehrer demütigte sie mit einem Deutschdiktat, und auf dem Pausenplatz plagten sie die Einheimischen als «Tschinggeli». Das traf die zwölfjährige Neuzuzügerin heftig. Denn sie war die einzige Ausländerin an der Schule. Zwar hatte bereits jede siebte Stadtzürcherin, jeder siebte Stadtzürcher einen ausländischen Pass. Doch das waren primär Erwachsene. Und den Saisonniers, die nicht zur ständigen Wohnbevölkerung zählten, war der Familiennachzug verboten. So bestimmte es das sogenannte Saisonnierstatut, das 1934 in Kraft trat und erst 2002 endgültig abgelöst wurde – durch die Personenfreizügigkeit mit der EU und die sie flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz.
«Das Verstecken war ein Akt des Widerstands — gegen ein Attentat auf die Familie.»
FALSCHE ANNAHMEN
Seine verheerendste Wirkung entfaltete das Statut im Wirtschaftsboom der Nachkriegsjahre. Die Schweiz rief nach Arbeitskräften. Aber nicht nach Familien. Die Bauarbeiter, Fabrikarbeiterinnen und Servicemitarbeitenden aus dem armen Süden sollten hier keinesfalls Wurzeln schlagen. «Überfremdung» hiess das Schlagwort der Stunde. Auch Porris Anwesenheit wurde bald als illegal taxiert. Es folgten Jahre des Versteckens. Rund 10 000 versteckte Kinder sollen von 1934 bis 2002 in der Schweiz gelebt haben. Davon gingen Schätzungen bisher aus. Doch dann trat Historiker Toni Ricciardi auf den Plan.
Er ist einer der renommiertesten Migrationsforscher und Kenner der schweizerisch-italienischen Beziehungen. An der Universität Genf forschte er bis vor kurzem zur Fremdplazierung von Saisonnierkindern im Wallis und dem Tessin. Die Studie ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» und wird demnächst publiziert. Schon jetzt ist einer ihrer zentralen Befunde bekannt: Allein im Zeitraum von 1949 bis 1975 lebten in der Schweiz bis zu 50 000 Kinder versteckt. Die alte Schätzung war also viel zu konservativ. Seine Zahl ermittelte Ricciardi gestützt auf Statistiken von Bund und Kantonen. Diese gaben zwar keinen direkten Aufschluss über die Anzahl «illegaler» Kinder, wohl aber über jene der Saisonniers, die in dieser Zeit in die Schweiz kamen: 2 Millionen waren es. Diese Zahl verknüpfte Ricciardi mit den jeweiligen Geburtenraten sowie anderen Daten, etwa zur Fremdplazierung, und kam so auf 50 000 versteckte Kinder. Diese sind aber nur das bekannteste Phänomen eines viel komplexeren Problems.
2 MILLIONEN OPFER
Die meisten Saisonnierkinder lebten nämlich nicht im Verborgenen, sondern bei Verwandten in der Heimat. Oder in Heimen jenseits der Grenze oder in der Schweiz. Auch ihre Zahl hat Ricciardi ermittelt: «Zusammen muss man von einer halben Million Kindern ausgehen.» Betroffen waren grossmehrheitlich Italienerinnen und Italiener. Der Historiker erklärt: «Bis Ende der 1960er stammten über 90 Prozent der Saisonniers aus Italien. Die Migration aus Spanien kam erst zehn Jahre später mit dem Ende der Franco-Diktatur richtig in Fahrt.» Ab dieser Zeit bestellten Unternehmen «ihre» Saisonniers auch aus dem damaligen Jugoslawien und zuletzt auch aus Portugal. Auch für sie war ein normales Familienleben oft nicht möglich. Da sie aber mehrheitlich erst nach 1975 einwanderten, fallen sie nicht mehr in Ricciardis Untersuchungszeitraum. Er sagt aber: «In den 68 Jahren des Saisonnierstatuts lebten wohl 1 bis 2 Millionen Kinder von ihren Eltern getrennt oder versteckt.» Es handelt sich also um ein Massenphänomen von bisher völlig verkannter Dimension. Und die Folgen belasten die Familien bis heute.
MISSBRAUCHT IM HEIM
Hier setzt der Verein Tesoro an. Betroffene des Saisonnierstatuts und Verbündete gründeten ihn im Oktober 2021. Vorausgegangen war eine Antwort der damaligen Justizministerin und SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga auf einen offenen Brief der heutigen Tesoro-Präsidentin Paola De Martin. Die Italoschweizerin war noch ein Baby, als die Fremdenpolizei sie ihren Eltern entriss. Von der Bundesrätin hatte De Martin eine gründliche Aufarbeitung dieser weitgehend verdrängten Landesgeschichte gefordert. Doch Sommaruga meinte, dies sei «zurzeit nicht vorgesehen», ein entsprechender Auftrag müsse das Parlament erteilen. Darauf wollte Tesoro nicht warten, sondern wurde selber tätig. Nun hat Historiker und Tesoro-Vorstandsmitglied Ricciardi den Anfang gemacht. Am Ziel ist der Verein damit noch nicht. Schliesslich stehen eine finanzielle Entschädigung sowie eine offizielle Entschuldigung der Behörden noch aus. Letztere sei besonders wichtig, erklärt Präsidentin De Martin, denn: «Viele Opfer haben die Schuld bisher bei sich gesucht.» Das erschwere das Sprechen über das Erlebte enorm. Tesoro will daher Betroffene verschiedener Generationen zusammenbringen. Was in diesen Gesprächen zutage trete, sei eindrücklich. Für viele versteckte Kinder sei nicht das Leben im Verborgenen das Schmerzhafteste gewesen, sondern das Bewusstsein über die ständige Angst der Eltern. Und noch etwas betont De Martin: «Die meisten, die von ihren Eltern getrennt und fremdplaziert wurden, berichten uns von physischer Gewalt, Misshandlung und Verwahrlosung. Viele sogar von sexuellem Missbrauch.» Von den ehemaligen versteckten Kindern hingegen habe bisher niemand von solchen Taten berichtet. Immerhin scheint ihnen das erspart geblieben zu sein. Für De Martin ist auch daher klar: «Das Verstecken war ein Akt des Widerstands – gegen ein Attentat auf die Familie.»
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