Editorial

Die Schweiz, das Schaf

Anne-Sophie Zbinden

Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Mit viel Pathos und hoffentlich etwas weniger Weisswein feierte das Parlament am 12. September den 175. Geburtstag der Schweiz (auch wenn manche diesen lieber einem Mythos, einem deutschen Dichter und einem anderen Datum zuschreiben würden). Prost! «Das Theater ist klein, aber das Spektakel hat Grösse», berichtete der Franzose Alexis de Tocqueville. Nicht im Jahr 2023, sondern 1848. Weit weniger diplomatisch beschrieb der junge Friedrich Engels die Ereig­nisse vor der Staatengründung: Die «brutalen und bigotten Berg­stämme» würden sich «störrisch gegen die Zivilisation und den Fortschritt stemmen». Was andere Zeitzeugen wie Louis Napoléon, Karl Marx oder Michail Bakunin über die Gründung des schweizerischen Bundesstaates dachten, hat Jonas Komposch auf hier zusammengetragen.

Es ist Zeit, die Schweiz vom Schaf zur Löwin zu machen.

ABSURD. Seither hat die Verfassung zwei grosse Revisionen und Hunderte Teilrevisionen erfahren, und mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 wurden endlich auch die Frauen Teil des Bundesstaates. Im Laufe der Zeit haben das Proporzsystem, der Gleichstellungsartikel oder der Beitritt zur Uno Einzug in die Verfassung gehalten. Aber auch einige absurde und völkerrechtlich umstrittene Vorlagen wie etwa Kleidungsvorschriften (Burka-Verbot) oder Turmbaubestimmungen (Anti-Minarett-Initiative).

Am Anfang steht eine feierliche Erklärung, die Präambel. Sie beschwört die gemeinsamen Werte, dichtet der Verfassung ein Fundament. Alle politischen Couleurs spiegeln sich darin: Da ist von Freiheit und Unabhängigkeit die Rede, aber auch von Solidarität und Vielfalt und von «der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen». Auf nichts Geringeres als diesen Satz beziehen sich die «Renovate»-Aktivistinnen und -Aktivisten, besser bekannt als Klima-Kleber. Sie sehen sich ihren Kindern und Kindeskindern verpflichtet und weniger den wutschnaubenden Autofahrenden. Für Ex-Baubüezer und «Renovate»-Mitglied Eric Ducrey ist klar: die Klebe-Aktionen, die macht er für seinen Sohn.

SCHAF. Feierlich steht in der Präambel seit 1999 auch: «(…) die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen». Der Schriftsteller Adolf Muschg, der diesen Satz schrieb, sagte im «Blick»-Interview, er sei «überrascht» gewesen, dass dieser Satz überlebte, denn er habe «bei den politischen Praktikern keine Gegenliebe» gefunden. Kein Wunder! Wenn das Wohl der Schwachen die Stärke des Volkes ausmacht, dann ist die Schweiz ein Schaf, mit Tendenz zum Schäfchen. Denn das Geld ist zwar da, aber hauptsächlich gehortet von Gut- und Bestverdienenden. Die Lohnschere geht weiter auseinander: Die 37 Topkonzerne schütteten 2022 fast 76 Milliarden Kapital­gewinne ans Aktionariat aus, das ist so viel wie der ganze Bundeshaushalt. Gleichzeitig sinken die tiefsten Löhne real, und die Mehrheit der Lohn­abhängigen ächzt unter steigenden Lebensmittelpreisen, Mieten und Krankenkassenprämien.

LÖWIN. Konkret zeigt sich das in den Caritas-Märkten. Dort kaufen 14 Prozent mehr Leute ein als letztes Jahr. Darija Knežević hat in einem Caritas-Markt in Bern mit den Kundinnen und Kunden gesprochen. Zum Beispiel mit Alexandra Pirovino (74), die an diesem Tag für knapp drei Franken einkauft. Mehr liegt nicht drin. Mit ihrer Rente kommt sie nicht über die Runden, obwohl sie ein Arbeitsleben lang gearbeitet hat. Aline Masé, Leiterin Sozialpolitik bei Caritas, warnt, dass Armut plötzlich auch Normalverdienende treffen könne. Es ist Zeit, endlich auch diesen Teil der Verfassung zu respektieren und die Schweiz vom Schaf zur Löwin zu machen.

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