Sechs zeitgenössische Promis zu 175 Jahren   Schweizer Bundesverfassung

«In Wirklichkeit regieren die Minderheiten»

Jonas Komposch

Fotos: Wikipedia (4) / Shutterstock / Picture Alliance / Schweizerisches Nationalmuseum

Am 12. September 1848 ist die Sache besiegelt: Die erste Schweizer Bundesverfassung tritt in Kraft. «Im Namen Gottes des Allmächtigen». So beginnt sie noch heute. Dabei ist gerade die Religionsfrage ein Spaltpilz par excellence. Sie eskaliert 1847 im letzten Krieg auf Schweizer Boden. Die Kontrahenten: die liberalen, meist reformierten Kantone einerseits und die katholisch-konservativen Walliser, Freiburger und Innerschweizer andererseits. Diese bilden zusammen den «Sonderbund», der nach knapp 4 Wochen, 100 Toten und 500 Verletzten kapituliert. Die Sieger schreiben sofort eine Verfassung, organisieren dazu (erstmals) eine Volksabstimmung und gewinnen diese trickreich: In Freiburg darf nur das Parlament abstimmen, in Luzern werden Enthaltungen kurzerhand als Ja-Stimmen gezählt. Am Ende sagen 72 Prozent Ja. Aus dem Staatenbund der alten Eidgenossenschaft wird definitiv ein Bundesstaat. Währungen, Masse und Gewichte werden vereinheitlicht, das Zoll- und Postwesen zentralisiert. Und nach US-Vorbild entsteht ein parlamentarisches Zweikammersystem – und damit die erste Demokratie Europas. Wobei: Juden bleiben noch lange ausgeschlossen, Frauen noch viel länger. Trotzdem: Für einmal ist die Schweiz dem Ausland weit voraus, was dort wiederum ganz unterschiedlich wahrgenommen wird.


«Schlimmes braut sich zusammen»

«Sie sind mir einer! Kümmern sich um meine archäologischen Studien, während Sie doch traurig bekümmert sein müssen wegen der schlimmen Ereignisse, die sich in der Schweiz zusammenbrauen. […] Es wäre grausam zu sehen, wenn sich erneut Religionskriege ent­fachen würden – erst recht im 19. Jahrhundert in einem freien Staat!»

LOUIS NAPOLEON, Thurgauer ­Ehrenbürger, ab 1852 (als Napoléon III) Kaiser der Franzosen, 1845 in einem Brief an seinen Freund General Henri Dufour


«Eine gefährliche Nachbarschaft»

«Für Österreich insbesondere ist […] die Schweiz in doppelter Beziehung eine unbequeme, ja gefährliche Nachbarschaft geworden. Einerseits kann es uns, […] nicht gleichgültig sein, wenn das Nachbarland sich zum Herde der Anarchie und der Revolution hergibt und wenn dessen Machthaber […] nicht die Macht und nicht die Lust haben, ihre Beziehungen zu unserem Staate den Gesetzen des Völkerrechts gemäss zu pflegen. Andererseits müssen wir stets befürchten, einmal früher oder später wider unseren Willen auf den Tummelplatz der Schweizer Wirren gezogen zu werden, wo wir uns notwendig mit Frankreich begegnen und durch das Zusammenstossen mit dieser Macht in die Gefahr einer uns nicht erwünschten schweren politischen Komplikation geraten würden.»

KLEMENS VON METTERNICH, Staatskanzler des Kaisertums Österreich, an den Gesandten für die Schweiz, 1846


«Das alte Pfaffennest umrütteln»

«Endlich also wird dem unaufhör­lichen Grossprahlen von der ‹Wiege der Freiheit› […] ein Ende gemacht werden! Endlich also hat es sich herausgestellt, dass die Wiege der Freiheit nichts anders ist als das Zentrum der Barbarei und die Pflanzschule der Jesuiten, dass die Enkel Tells und Winkelrieds durch keine andern Gründe zur Raison zu bringen sind als durch Kanonenkugeln, dass die Tapferkeit von Sempach und Murten nichts anders war als die Verzweiflung brutaler und bigotter Bergstämme, die sich störrisch gegen die Zivilisation und den Fortschritt stemmen! […] Der Bürgerkrieg, der jetzt ausgebrochen ist, wird also der Sache der Demokratie nur förderlich sein. […] Je energischer die Tag­satzung zu Werke geht, je gewaltsamer sie dies alte Pfaffennest umrütteln wird, desto mehr Anspruch auf die Unterstützung aller entschiedenen Demokraten wird sie haben.»

Der junge FRIEDRICH ENGELS (26) in seinem Zeitungsartikel «Der Schweizer Bürgerkrieg», 1847


«Widersprechende Elemente»

«In der Schweiz unterstützen sie die Radikalen [eine Vorläuferrichtung der heutigen FDP, Anm. d. Red.], ohne zu verkennen, dass diese Partei aus widersprechenden Elementen besteht, teils aus demokratischen Sozialisten im französischen Sinn, teils aus radikalen Bourgeois.»

KARL MARX im «Kommunistischen Manifest» (1848) über die «Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen oppositionellen Parteien»


«Das Spektakel hat Grösse»

«Was in der Schweiz geschieht, ist keine isolierte Tat­sache, sondern eine besondere Bewegung inmitten der allgemeinen Bewegung, die das alte Gebäude der Institutionen in Europa in den Untergang stürzt. Das Theater ist zwar klein, doch das Spektakel hat Grösse; es hat vor allem eine einzigartige Originalität. Nirgends hat sich die demokratische Revolution, die die Welt bewegt, unter so komplizierten und bizarren Umständen ereignet.»

ALEXIS DE TOCQUEVILLE, Historiker
und liberaler Abgeordneter der französischen Nationalversammlung, in seinem
«Bericht über die Demokratie in der Schweiz», 1848


«Demokratie bleibt eine Fiktion»

«Die Selbstregierung der Massen bleibt trotz des ganzen Apparats der Volksallmacht meist nur eine Fiktion. In Wirklichkeit regieren die Minderheiten. […] In der Schweiz regiert trotz aller demokratischen Revolutionen immer noch die wohlhabende Klasse, die Bourgeoisie, das heisst die Minderheit, die in Bezug auf Vermögen, Freizeit und Bildung privilegiert ist. Das Volk ist de jure souverän, aber nicht de facto, weil es zwangsläufig von seiner täglichen Arbeit absorbiert wird, die ihm keine Freizeit lässt. […] Daher ist das Volk gezwungen, seine angebliche Souveränität in die Hände der Bourgeoisie zu legen.»

MICHAIL BAKUNIN, russischer Anarchist, 1867 aus Genf an die Internationale Friedensliga

2 Kommentare

  1. Beat Hubschmid

    Ich will nicht falsch verstanden werden, aber ist nicht hier der russische Anarchist Michail Bakunin der (heutigen) Realität am nächsten?

  2. Beat Hubschmid

    Ich will nicht falsch verstanden werden, aber ist nicht hier der russische Anarchist der (heutigen) Realität am nächsten? Oder Thomas Maissen: „…dass das Volk selbst gar keine Zeit zum Herrschen hat, sondern Geld verdienen, essen, Fussball spielen und fernsehen will und muss.“ Heute gehören zur „Bourgeoisie“ „natürli“ auch die Sozis und die Grünen (Balthasar verdankt die Millionenspende…).

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