Vom Mutterschutz zum Sozialstaat:

100 Jahre Geiz, Geifer und Galle

Nathalie Imboden

Die Schweiz war in Europa das letzte Land, das eine Mutterschaftsversicherung einführte. Denn Mann wollte keine Konkurrenz im Job.

MIT TIGERFINKLI: Postkarte zur Abstimmung vom 13. Juni 1999 über die Mutterschaftsversicherung. Diese wurde aber erst 2005 eingeführt. (Foto: Sozialarchiv)

Bereits 1977 titelt die feministische Zeitung «Emanzipation» treffend: «Hundert Jahre Geiz». Der Geiz (der Arbeitgeber) ist nur der eine Hemmschuh, die patriarchale Ideologie (auch vieler Büezer) der andere. Die Geschlechterrollen sind klar zugeteilt: die Frau am Herd, der Mann am Arbeitsplatz. Er hat die Rolle des Ernährers, er bringt «die Brötchen» nach Hause. Erwerbstätige Frauen gelten als Konkurrentinnen. Des Mannes. Und sie sehen sich häufig dem Vorwurf ausgesetzt «Rabenmütter» zu sein und «Schlüsselkinder» zu schaffen. In dieser bürger­lichen Welt ist die Mutterschaft Privatsache. Der Staat soll nicht eingreifen. Noch 2004 sagt SVP-Nationalrat Jürg Stahl in der Parlamentsdebatte: «Die private Angelegenheit Schwangerschaft muss nicht mit neuen Sozialversicherungen angereichert werden.» In dieselbe Kerbe haut Johann Schneider-Ammann, damals FDP-Nationalrat, er will keine Mutterschaftsversicherung.

DAS ARBEITSVERBOT

Alles fängt an mit einem sechswöchigen Beschäftigungsverbot für Frauen nach der Niederkunft. Im Glarner Fabrikgesetz von 1864. Der Gesundheitsschutz für Arbeiterinnen ist damals eine europäische Pioniertat. Der Sonderschutz für Schwangere wird 1877 auch im eidgenössischen Fabrikgesetz verankert. Den Lohnersatz für den Lohnausfall will das neue Krankenversicherungsgesetz (Lex Forrer) bringen. Doch das Gesetz geht 1900 in einer Referendumsabstimmung bachab. Für die schlechtverdienenden Fabrikarbeiterinnen wird dieser Sonderschutz ohne Lohnersatz zum Bumerang. Sie sehen sich gezwungen, das Gesetz zu umgehen und in dieser Zeit eine andere Arbeit anzunehmen. Das bringt den Bund Schweizerischer Frauenvereine (BFS) und verschiedene Arbeiterinnenvereine auf den Plan. Sie reichen 1904 eine Petition ein, die einen Lohnersatz für die Dauer das Arbeitsverbots fordert. Ohne Erfolg. Das neue Kranken- und Unfallversicherungsgesetz sichert 1918 immerhin die Finanzierung der Pflegeleistungen im Wochenbett.

Doch die kleine Morgenröte am Himmel der Mutterschaftsversicherung erlischt bald wieder. 1921 verwerfen Bundesrat und Parlament das Über­einkommen Nr. 3 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Es will für die Frauen vor und nach der Geburt ein Beschäftigungsverbot mit Kündigungsschutz und finanzieller Sicherung.

In der bürgerlichen Welt ist Mutterschaft Privatsache.

GÖTTLICHE ORDNUNG

Auch die Katholisch-Konservativen (heute CVP) mischen mit: die traditionellen Familien und damit die göttliche Ordnung sollen um jeden Preis aufrechterhalten werden. 1941 reichen sie ihre Initiative «Für die Familie» ein. Der Gegenvorschlag wird angenommen. Der «Schutz der Familie» wird in der Verfassung verankert, und auch der Auftrag, eine Mutterschaftsversicherung einzurichten. Mit Gleichberechtigung hatte das jedoch nichts zu tun, man wollte nicht die Emanzipation der Frauen fördern, sondern die Mutterschaft schützen.

Den fortschrittlichen Frauen sind die 3 K: «Kinder, Küche, Kirche» schon lange ein Dorn im Auge. Denn sie kämpfen für die Emanzipation und Gleichberechtigung und für die Einbindung des Mannes in die Haus- und Erziehungsarbeit.1978 lanciert die feministische Ofra, die Organisation für die Sache der Frau, eine Initiative für einen bezahlten Mutterschaftsurlaub von 16 Wochen (zu 100 Prozent) plus einen neunmonatigen Elternurlaub für Vater oder Mutter. Doch auch die Frauen sind zerstritten. Die wichtigsten bürgerlichen Frauenorganisationen lehnen die Vorlage ab. CVP-Nationalrätin Eva Segmüller sagt das so: «Die familienpolitischen Bestrebungen der CVP gehen nicht dahin, ausgerechnet die Erwerbstätigkeit von Müttern kleiner Kinder zu fördern.» So kam es denn, wie es kommen musste: Die Initiative erleidet 1984 mit 84 Prozent Nein-Stimmen Schiffbruch.

Nach dem Frauenstreik von 1991 und mit der Gewerkschafterin und Sozialdemokratin Ruth Dreifuss im Bundesrat wendet sich das Blatt: Noch eine Vorlage scheitert 1999 am Widerstand von Arbeitgeberverbänden, SVP und Teilen der FDP.

Erneut warnen sie vor einem «Luxus», den sich die Schweiz nicht leisten könne. Doch in der Westschweiz gehört der Arbeitgeberverband bereits zur Ja-Allianz. Die ideologische Front bröckelt.

TRIPONEZ KOMMT

Und dann kommt plötzlich ein Freisinniger, der zur Abwechslung mal rechnet: Gewerbeverbandschef Pierre Triponez. Er realisiert, dass eine staatliche Lösung, finanziert von Arbeitnehmenden und Arbeitgebern, die Arbeitgeber entlasten kann.

86 Jahre: Das Stichdatum

Die Arbeiterinnenbewegung, der Bund Schweizerischer Frauenvereine (BFS) und der Schweizerische Verband für Frauenrechte traten für die Ratifizierung der Konvention zur Mutterschaftsversicherung der ersten internationalen Arbeitskonferenz von 1919 ein. Doch das Männer­parlament ignorierte die Eingaben der Frauen und lehnte die Konvention ab.

Triponez schlägt vor, den Mutterschaftsurlaub via bestehende Erwerbsersatzordnung zu finanzieren. Und es kommt zu einer Allianz zwischen ihm und fortschrittlichen Nationalrätinnen.

Ironie des Schicksals: 86 Jahre lang haben die Frauen für eine umfassende Regelung einer Mutterschaftsversicherung gekämpft – und nun wird ein rechter Mann als Vater der Mutterschaftsversicherung gefeiert. Noch einmal ergreift die SVP das Referendum. Erfolglos: Als letztes Land in Europa führt die Schweiz am 1. Juli 2005 eine Mutterschaftsversicherung ein. Eine Minimallösung ohne Elternurlaub.

P. S. Heute bekommt ein Vater nach Gesetz bei der Geburt eines Kindes gleich viel Urlaub wie beim Zügeln. Nämlich einen Tag. Das will die Initia­tive «Vaterschaftsurlaub jetzt!» ändern. Doch der Bundesrat lehnt sie ab: Die Kosten seien der Schweiz nicht zuzumuten. Sagt allen voran Johann Schneider-Ammann, inzwischen Bundesrat.

Natalie Imboden ist Historikerin und lebt in Bern. Als Gewerkschaftssekretärin war sie an den Abstimmungskampagnen zur Mutterschaftsversicherung von 1999 und 2003 beteiligt. 


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