Geschichtsprofessorin Raquel Varela (45) erklärt die Nelkenrevolution

«Für die  Bourgeoisie war es ein Albtraum!»

Jonas Komposch

Die Nelkenrevolution war mehr als ein genialer Militärputsch für die ­Demokratie. Raquel Varela spricht ­sogar vom ­radikalsten ­sozialrevolutionären Prozess im Europa der ­Nachkriegszeit. Warum darüber heute kaum mehr ­gesprochen wird und was hinter dem jüngsten Wahlsieg der extremen ­Rechten steckt, erklärt die Historikerin im grossen work-Interview.

RAQUEL VARELA, PROFESSORIN UND TV-PROMI: Raquel Varela (45) ist Professorin für Geschichte an der neuen Universität Lissabon und eine der renommiertesten Historikerinnen in den Gebieten soziale Konflikte, Arbeit und Arbeiterbewegung. Ihr Buch «A People’s History of the Portuguese Revolution» (2019, auf portugiesisch und englisch) zählt zu den Standardwerken über die Nelkenrevolution. In Portugal ist Varela landesweit bekannt, da sie regelmässig in politischen TV-Debatten auftritt. (Foto: raquelcardeiravarela.wordpress.com)

work: Frau Varela, Sie sagen, die Nelkenrevolution habe in Afrika begonnen. Bitte erklären Sie das!
Raquel Varela: Ich sage sogar, die portugiesische Revolution begann nicht mit dem berühmten Militärputsch vom 25. April 1974, sondern schon 1961 – und zwar mit einem Streik von Baumwollpflückerinnen und -pflückern in Angola. Das waren Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter eines belgisch-portugiesischen Konsortiums. Die portugiesische Kolonialverwaltung reagierte brutal auf den Streik. Die Luftwaffe attackierte zwanzig Dörfer mit Napalm-Bomben.

Wie bitte?!
Über 10 000 Menschen verbrannten. Es war dieses Massaker, das den antikolonialen Befreiungskampf in Angola definitiv entfachte. Und wenig später griffen die Unterdrückten auch in den Kolonien Guinea-Bissau und Moçambique zu den Waffen. Dieser Widerstand befeuerte den Unmut in der portugiesischen Armee. In den 13 Kriegsjahren gegen die antikolonialen Erhebungen entzogen sich 200 000 Männer dem Dienst, 8000 desertierten sogar, 9000 kamen ums ­Leben. Und je schwieriger die Lage für Portugal wurde, desto mehr Auftrieb erhielten die demokratisch gesinnten Militärfraktionen. Am 25. April 1974 gelang ihnen schliesslich der Putsch in der ­Heimat.

Was waren das für Militärs, die da plötzlich gegen die Diktatur aufstanden?
Keine Angehörigen der alten Militäreliten, sondern junge Offiziere von mittlerer Ranghöhe und kleinbürgerlicher Herkunft. Sie wurden in den Kolonien stationiert und mussten dort schmutzige und verlustreiche Manöver befehligen. Sie verstanden bald, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen war, sondern einer politischen Lösung bedurfte. Dazu war die Diktatur aber niemals bereit. Mit ihrem Putsch beabsichtigten die Offiziere eine politische Revolution hin zur bürgerlichen Demokratie.

Das Volk wollte aber mehr als bürgerliche Demokratie!
Tatsächlich wurde der Putsch sofort zum Türöffner für den radikalsten sozialrevolutionären Prozess in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Hunderttausende Menschen traten in den Streik, Millionen beteiligten sich an Demonstrationen, obwohl die Putschisten eine Ausgangssperre verordnet hatten, Hunderte Fabriken wurden in Beschlag genommen und in Arbeiterselbst­verwaltung übergeführt, das Landproletariat besetzte einen Viertel aller ­Agrarflächen und gründete darauf Kooperativen, in den Städten besetzten Familien aus den Slums Tausende leerstehende Häuser. Und landesweit machte etwa ein Drittel der Bevölkerung bei Arbeiterräten oder Nachbarschaftskomitees mit.

Von diesem Teil der Revolution hört man nicht mehr viel.
Klar, die heutige Bourgeoisie hat kein Interesse, die arbeitende Klasse zu erinnern, wozu sie fähig ist. In vielen Unternehmen gaben nach dem Putsch die Lohnabhängigen den Tarif durch. Sie führten die Betriebe demokratisch und nicht selten ganz ohne einen Chef. Für die Bourgeoisie – auch für jene im Ausland – war das ein Alptraum, das schlimmste Ereignis nach der US-Niederlage in Vietnam!

Gefreut haben dürfte sich dafür die kommunistische Partei, die eben erst aus der Illegalität aufgetaucht war.
Nur bedingt. Denn die portugiesische KP hatte kein Interesse an einem revolutionären Prozess von unten. Sie wollte den Kapitalismus in Portugal nicht abschaffen, sondern regulieren. Denn die Partei befolgte die Weisungen der Sowjetunion – und die hielt sich an die Machtverteilung in Europa, wie sie an der Jalta-Konferenz 1945 beschlossen worden war. Demnach gehörte Portugal zum kapitalistischen Westen. 1948 wurde Portugal sogar Gründungsmitglied der Nato. Eine Intervention des Westens wollte die KP unbedingt verhindern und versuchte daher, den Gärprozess in den Betrieben zu kontrollieren und die vielen Streiks und Besetzungen einzuhegen.

Welche Rolle spielten dabei die Gewerkschaften?
Sie waren ja schon in den 1930er Jahren verboten oder in faschistisch-ständestaatliche Verbände umgewandelt worden. Ende der sechziger Jahre, als der gesundheitlich schwer angeschlagene Langzeitdiktator António de Oliveira Salazar von seinen Getreuen entmachtet worden war, gab es eine kurze Tauwetterphase. Doch bald wurde wieder alles unterdrückt. Vereinigungsfreiheit gab es erst nach dem 25. April 1974. Die KP machte sich sofort daran, die Gewerkschaftszentralen zu besetzen und dort die Macht zu übernehmen. Auch bei der Gründung des Gewerkschaftsbunds Intersindical war die KP führend. Diese Organisation zählte bald über 1 Million Mitglieder.

Da sind die Mitglieder der Arbeiterräte nicht mitgezählt?
Genau. In den Arbeiterräten waren noch viel mehr Leute Mitglied. Dort hatten sie auch mehr Macht als in den Gewerkschaften. Diese Räte waren selbstverwaltete, direktdemokratische Gremien, in denen die Mandatierten jederzeit von der Basis abberufen werden konnten. Über 5000 solcher Räte gab es im ganzen Land, eine heute kaum vorstellbare Dimension! Es kam deshalb zu einer dualen Machtverteilung, wie sie in Revolutionen typisch ist: einerseits die Macht des Staates, der Institutionen und der Gewerkschaften, andererseits die Macht der Arbeiterräte.

In Ihrem Buch über die Nelkenrevolution bezeichnen Sie Salazars Portugal als die «rückständigsten Nation Europas».
Wir hatten die höchste Sterberate bei Kindern und Müttern in ganz Europa, zudem die tiefsten Löhne. Ein Drittel der Leute konnten weder schreiben noch lesen. Es gab Zensur, politische Polizei, nur Staatsmedien, nur eine Partei, keine freien Wahlen und kein allgemeines Wahlrecht. Die Stellung der Frau war katast- rophal. Ohne Erlaubnis des Ehemanns durfte sie nicht verreisen. Er durfte dafür ihre Briefe öffnen. Und Scheidungen waren für Katholiken verboten.

 

Aber auch in der Revolutionshymne «Grândola, vila morena» ist nur vom «Land der Brüderlichkeit» die Rede. Wo waren denn die Schwestern?
Oh, die Frauen waren sehr wichtig in der Revolution. Und zwar in den Arbeiterräten und besonders in den Nachbarschaftsräten. Es waren Frauen, die 1974 entschieden, dass es von nun an Kitas geben werde. Es waren auch Frauen, die neue Gesundheitszentren einrichteten. Oder die das öffentliche Transportwesen ausbauten. Die Liste ist lang. Wichtig zu wissen ist, dass die Frauen in der Diktatur zwar extrem unterdrückt waren, aber gleichzeitig als Arbeiterinnen beträchtliche Macht hatten. Denn nirgendwo waren so viele Frauen berufstätig wie in Portugal. Dies aus dem simplen Grund, dass Abertausende Männer ausgewandert oder im Militärdienst waren.

Die Diktatur ist seit fünfzig Jahren Geschichte. Doch bei den Parlamentswahlen im vergangenen März ging die extrem rechte Partei Chega als Wahlsiegerin hervor. Warum?
Das Wahlergebnis war ein Schock. Die extreme Rechte ist jetzt die drittstärkste Kraft. Das bringt demokratische Errungenschaften durchaus in Gefahr. Aber nicht nur in Portugal, sondern in ganz Europa. Denn die Konzentration des Reichtums in den Händen der wenigen verschärft die sozialen Spannungen. Und darauf antworten die Reichen und ihr Staat klassischerweise autoritär.

Immerhin war die extreme Rechte in Portugal bis anhin ­jahrelang völlig unbedeutend. Im europäischen Vergleich war das quasi einzigartig. Wie erklärt sich das?
Das sind die Auswirkungen der Nelkenrevolution! Nach 1974 hatte Portugal eine riesige revolutionär-linke Bewegung. Und auch die KP wurde zu einer der wichtigsten kommunistischen Parteien Europas. Doch mit der Unterstützung der Linksaussenparteien und der KP für die sozialdemokratische Regierung ab 2017 begann der Niedergang. Die Regierung änderte nämlich leider nichts an den arbeitnehmerfeindlichen Gesetzen, die uns die Troika (Europäische ­Kommission, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds, Anm. d. Red.) während der Schuldenkrise 2010 bis 2014 diktiert hatte. Dann gab es viele Streiks, doch die sozialdemokratische Regierung reagierte mit harschen Anti-Streik-Gesetzen. All das führte zu einer Demoralisierung vieler Linker, sie gingen nicht mehr an die Urnen. Die Schwäche der Linken hat der Rechten einen Raum zur Entfaltung gegeben.

Aber die sozialistische Partei hat doch einiges erreicht: Die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosigkeit ist massiv gesunken.
Von diesem Boom profitieren nur ganz wenige. 70 Prozent der Lohnabhängigen müssen Überstunden leisten oder einen Zweitjob annehmen, um über die Runden zu kommen. Der nationale Mindestlohn liegt bei rund 700 Euro. Dabei kam eine Studie schon 2019 zum Schluss, dass mindestens 1300 Euro nötig wären, um den Grundbedarf zu decken. Seither ist es aber zu einer horrenden Inflation gekommen. Und die Reallöhne sinken schon seit dreissig Jahren. Katastrophal ist die Situation im öffentlichen Sektor. Dringend benötigte Spitäler müssen schliessen, und Tausende Schülerinnen und Schüler haben keine Lehrpersonen. Und mit der neuen konservativen Regierung wird es sicher nicht besser werden.

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