Schnüffelstaat II:

So flog der Skandal wirklich auf

Marie-Josée Kuhn

Vor dreissig Jahren, im November 1989, flog der Fichenskandal auf. Ein politisches Überwachungssystem bei der Bundesanwaltschaft hatte fast eine Million Bürgerinnen und Bürger bespitzelt und in Fichen registriert.

EIN ANRUF ZU VIEL: Die erste Bundesrätin der Schweiz, Elisabeth Kopp, musste 1989 zurücktreten. Und die Linke liess den Schnüffelstaat auffliegen. (Foto: Keystone)

Doch wer links war und politisch engagiert, wusste schon früher von dieser Schnüffel­polizei: Der bürgerliche Staat liess linke Parteien, Gewerkschaften und die 80er Bewegung überwachen. Es wüteten der Kalte Krieg und der kalte Antikommunismus. In Zürich zum Beispiel beschäftigte der Staatsschutz der Stadt vollamtliche ­Polizeispitzel, sogenannte Insider.

Einen von ihnen, Walter ­Truniger, enttarnte der umtriebige ­Zürcher Recherche-Journalist Jürg Frischknecht bereits 1986 in der ­«Wochenzeitung». Frischknecht: «Bis zu fünf Jahre spielten diese Insider mit Aliasnamen und langen Haaren die Rolle von Linken, ermunterten als Agents provocateurs zu Straftaten, ­meldeten Dutzende bis Hunderte von Sitzungs- und DemoteilnehmerInnen ins KK III an der Stampfenbachstrasse, ins Kriminalkommissariat III der Stapo Zürich (WOZ, 12. Januar 2006).» Und auch im Oberwallis kannte die Linke ihren Überwacher. ­Peter Bodenmann, ehemals SP-Präsident und heute unter anderem Hotelier: «Ein Schnüffel­polizist kam jeweils an unsere 1.-Mai-Feiern, im auffällig unauffälligen Ledermantel. Der Saal lachte und johlte.» Die ernstere Seite sei die Tatsache ge­wesen, dass Leute der Bewegung Kritisches Oberwallis ein Berufsverbot hatten. So etwa das gewählte Parlamentsmitglied des ­Walliser Grossen ­Rates, der Psychologe Stefan Niklaus.

«Die Linke nutzte Kopps Rücktritt, um den schweizerischen Fichenstaat auffliegen zu lassen.»

BODENMANN & RECHSTEINER

Der Fichenskandal fiel nicht vom Himmel. Darüber, wie er genau aufflog, liegt noch vieles im Nebel. Aber ­Spuren lassen sich problemlos nachzeichnen.

Zur Erinnerung: Im Vorfeld des Fichenskandals stolperte die erste Bundesrätin der Schweiz, die Freisinnige Elisabeth Kopp, über ein Telefonat mit ihrem Ehemann, dem Wirtschafts­anwalt Hans W. Kopp. Es ging um Geldwäscherei einer Firma, in deren Verwaltungsrat Kopp sass. Und um die Frage, ob sie ihn gewarnt und deshalb das Amtsgeheimnis verletzt habe. Um das zu klären, setzten National- und Ständerat eine parlamentarische ­Untersuchungskommission (PUK) ein.

Innerhalb der SP-Fraktion waren damals Paul Rechsteiner und Peter ­Bodenmann die treibenden Kräfte. Den Auftrag an die PUK hatte die SP formuliert und in den eigens dafür einberufenen Von-Wattenwyl-Gesprächen, an denen sich Bundesrat und die ­Spitzen der Bundesratsparteien beteiligten, durchgesetzt. Die Formulierung war so gewählt, dass man auch die Fichenfrage aufdecken konnte. Offenbar ohne dass dies die übrigen Parteien so richtig realisierten. Moritz Leuenberger, der spätere SP-Bundesrat, wurde Präsident der PUK. Und der St. Galler Anwalt ­Niklaus Oberholzer, der noch Bundesrichter ist, war ihr ständiger Experte.

Im Verlaufe der Zeit liessen besorgte Mitarbeiter des Nachrichtendienstes immer mehr Informationen durchsickern. Ohne eine aufsässige Presse, ohne die Mobilisierung der ­Kulturschaffenden und der Massen hätte sich nichts bewegt.

Doch wie war das damals genau gelaufen? Der heutige Ständerat und Ex-SGB-Chef Rechsteiner sagt heute ­sibyllinisch: «Da waren ein paar Leute in der Partei, die frisch im Nationalrat und wach und schnell genug waren, um den Fichenskandal ins Rollen zu bringen (work, 2.11.2018).» Präziser schilderte Bodenmann das Vorgehen 2007 im «Blick»: «Elisabeth Kopp hat ­ihren Mann telefonisch über gericht­liche Untersuchungen informiert. Und dies gegenüber dem Bundesrat verschwiegen. Ein folgenschwerer Doppelfehler. Die Linke nutzte ihren Rücktritt, um den schweizerischen Fichenstaat auffliegen zu lassen.»

Wie bitte? Die Untersuchung des Falls Kopp war also nur Mittel zum Zweck gewesen? Bodenmann weiter im «Blick»: «Kopps Mann nahm keinen ­politischen Einfluss.» Wie? Obwohl ­Elisabeth Kopp schliesslich demissionierte, war das nur ein Miniskandal gewesen? Warum wusste Bodenmann das damals so sicher? Bodenmann heute: «Weil es so war!» Wer die wirkliche ­Bedeutung des Fichenskandals von ­damals begreifen wolle, so Bodenmann, müsse ihn im ­damaligen Zeitgeist und -geschehen begreifen.

Ende der achtziger Jahre fiel die Berliner Mauer. Und im Osten implodierte die Sowjetunion. Tausende DDR-Bürgerinnen und -Bürger holten sich ihre Stasi-Akten. Und immer mehr Details über den DDR-Überwachungsstaat ­wurden publik. Das war ein riesiger ­Triumph für die rechten kalten Krieger.

STEINEGGER & DIE STASI

FDP-Chef Franz Steinegger beschrieb ihn 2007 ebenfalls im «Blick» so: «Mit dem Fall der Mauer in Berlin im ­November war die sozialistische Utopie zusammengekracht. Dieses Desaster des Sozialismus hätte eigentlich auch zum Desaster der ungezählten heim­lichen und offenen Anwälte dieser Utopie bei uns führen müssen.»

Doch «nichts dergleichen» sei geschehen, fügte «Katastrophen-Franz» spürbar frustriert hinzu: «Stattdessen beschäftigten wir uns mit Fichen.» Mehr noch, plötzlich stand die politische Rechte mit ihrem Fichenstaat in der gleichen (Schämdi-)Ecke wie die Stasi. Das hatten Bodenmann, Rechsteiner & Co. wahrlich fein hingekriegt!


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