Hunderttausende Frauen auf den Strassen: So etwas gab es in der Schweiz noch nie. Und das war erst der Anfang.
FRAUEN IM LAUFGITTER: 14. Juni, Zürich Paradeplatz, mit Protest und Prosecco. (Foto: Brigitte Marassi)
Meine Mutter fand den Frauenstreik «prima». Dies, obwohl sie aufs Alter hin immer konservativer geworden war. 1991 war sie 68 Jahre alt, ich 32. Uns trennte vieles, aber der Ärger über das Schneckentempo der schweizerischen Gleichstellungspolitik einte uns.
1991 gibt es in der Schweiz weder eine Mutterschaftsversicherung noch das Recht auf einen straflosen Schwangerschaftsabbruch. Die Vergewaltigung in der Ehe wird nicht automatisch verfolgt, sondern nur auf Anzeige hin. Zwar gibt es schon einen Kündigungsschutz während der Schwangerschaft und nach der Geburt, aber noch keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung. Was also, wenn eine Berufsfrau schwanger wird? Wie regelt das zum Beispiel die NZZ? Der Personalchef muss erst lachen, dann sagt er mir: «Wissen Sie, wir hatten seit zwanzig Jahren keine schwangere Redaktorin. Keine Ahnung, was wir dann machen würden.» Das war 1991. Und ja, wir hatten damals seit kurzem zwar den Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung. Und der gebot den gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. Dem war aber überhaupt nicht so.
Da beschliessen einige Gewerkschafterinnen im Jura, im Vallée de Joux, im Anschluss an eine Sitzung: «Jetzt machen wir Druck! Warum keinen Streik?» Schluss mit «Bitti-bätti»-machen! Schluss mit Kopfeinziehen! Uhrenarbeiterin Liliane Valceschini kontaktiert Smuv-Zentralsekretärin Christiane Brunner. Diese trägt die Idee weiter. Ihre Kollegen sind gar nicht begeistert, aber auch Kolleginnen distanzieren sich. Zu gross das Wagnis, einen Streik dürfe man so etwas sowieso nicht nennen. Das sei mit viel Glück vielleicht gerade mal ein Aktionstag. Doch Christiane Brunner und Liliane Valceschini machen weiter. Sie kämpfen sich vom abgelegenen Vallée de Joux durch die Gewerkschaftsgremien und schliesslich auch durch den SGB-Kongress vom Herbst 1990.
Und dann beginnt die Reise: Sechs Monate lang tingelt Christiane Brunner kreuz und quer durch die Schweiz. Sie spricht in jeder noch so kleinen Gemeinde zu Frauengruppen jeder politischen Couleur. Einmal, erinnert sie sich heute, redete sie wieder vor lauter skeptischen Frauen. Da stand plötzlich eine kräftige Mittfünfzigerin auf und sagte: «Frauen, bis jetzt hat der Ruedi noch jeden Mittag ein warmes Essen von mir bekommen. Aber am 14. Juni wird er kalt essen müssen!»
MACHEN SIE PLATZ, MONSIEUR!
Mitte Februar 1991 beginne ich auf der neu geschaffenen Stelle als Frauensekretärin bei der Mediengewerkschaft SJU in Bern. «Willkommen bei den roten Patriarchen!» begrüsst mich am ersten Arbeitstag eine Kollegin und schickt mich gleich an die Gerichtsverhandlung der Gewerkschafterinnen der Druckergewerkschaft GDP gegen ihre eigene Gewerkschaft. Die hat einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) im Buchbindereigewerbe abgeschlossen, der für Frauen tiefere Mindestlöhne vorsieht als für Männer. Die Frauen bekommen recht, und der GAV muss neu verhandelt werden. Ein rasanter Anfang, die Vorbereitungen für den Frauenstreik laufen bereits auf Hochtouren, und täglich steigt die Nervosität. Am frühen Morgen des 14. Juni schlägt sie schliesslich in helle Aufregung um. Die Sonne scheint, und alle sind auf den Beinen. Pfannen, Besen und violette Fahnen hängen überall aus den Fenstern. In Bern trifft der Frauenstreik auf die 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft. Der vom Bundesrat geplante Empfang der internationalen Ehrengäste auf dem abgeriegelten Bundesplatz gerät komplett aus dem Ruder, als Tausende Frauen den Platz kurzerhand besetzen und die vorfahrenden Limousinen ausbuhen. Die Ehrengäste werden durch den Hintereingang ins Bundeshaus gelotst.
BESSER ALS EIN TRAUM
Hunderte Frauen ziehen auf die Plätze in Lugano, Locarno, Bellinzona und Mendrisio. In La Chaux-de-Fonds haben die Frauen die Strassen umbenannt – nach den Heimarbeiterinnen aus den Anfängen der Uhrenindustrie. In Bern machen die Frauen ein Sit-in vor der Migros und vor Hennes & Mauritz. In Zürich blockieren Tausende Frauen die Bahnhofstrasse. Für die Trams gibt’s kein Durchkommen mehr. «Machen Sie Platz, Monsieur!» und «Nehmen Sie Platz, Madame!» steht auf zwei Plakaten. Die Arbeiterinnen der Leinenweberei Bern streiken und fordern: «Gleiche Rente fürs Mami!»
In Zürich verlassen am Opernhaus die Musikerinnen, Maskenbildnerinnen und die Schneiderinnen die Bühnenprobe. Und am Abend listet eine Beilage zum Programmheft auf, was ohne Frauen alles nicht funktioniert: «Eigentlich hätten Sie gerne ein Programmheft … wahrscheinlich bekämen Sie nur ein altes, weil die Organisation durch Frauenhand geht … Da Sie vorher kein Programmheft lesen müssen, haben Sie Zeit, zur Toilette zu gehen. Wollen Sie das wirklich? Vielleicht fehlt das Klopapier, oder der Zustand des Häuschens ist eher desolat … Auch gut, dringend war’s eh nicht … Keine freundliche Platzanweiserin empfängt Sie heute und weist Sie ein. Sie sind heute Abend Ihrem eigenen Orientierungssinn ausgeliefert … Kostüme? Es gäbe gar keine, weil sie niemand aus dem Kleiderfundus holen würde …»
«Mieux qu’un rêve, une grêve»: Besser als ein Traum, ein Streik. Das war der Lockruf der mutigen Gewerkschafterinnen aus dem Vallée de Joux. Und Hunderttausende in der ganzen Schweiz folgten ihm. Frauen aller sozialen Schichten, aller Berufe und Generationen zusammen. So was gab’s noch nie. Reichlich improvisiert und voller toller Regelbrüche. Wir hatten Wut, und wir hatten’s gut. Das war der 14. Juni 1991.
Zwar schrieben ihn anderntags die bürgerlichen Medien klein. Ein harmloses, farbenfrohes Frauenfest sei’s gewesen. Eine Eintagsfliege. Doch 1993 standen wir Frauen schon wieder zusammen auf der Strasse – und erzwangen eine Bundesrätin. Die Wahl von Ruth Dreifuss. Und wir standen auch 2003 wieder da, bei der Abwahl Ruth Metzlers und der Wahl von Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz in den Bundesrat. Und auch 2008, als die SVP Eveline Widmer-Schlumpf drohte, sie aus der Partei auszuschliessen, wenn sie nicht sofort als Bundesrätin zurücktrete.
11 Jahre nach dem Frauenstreik wird die Abtreibung straffrei. 13 Jahre nach dem Frauenstreik kommt die Mutterschaftsversicherung, und die Vergewaltigung in der Ehe wird zum Offizialdelikt. Auf die Lohngleichheit warte ich allerdings immer noch. Inzwischen ohne meine Mutter.
Die Schweizer Volksmusik ist verstaubt und voller alter Rollenbilder. Jetzt stimmt ein Nidwaldner Frauenchor ganz neue Töne an – und sorgt damit für grosses Aufsehen.
Begrapscht, belästigt und viel zu oft nicht ernst genommen: Jetzt zeigt eine Studie das Ausmass von sexueller Belästigung in Schweizer Spitälern und Altersheimen.
Schön dass Sie Fotos von mir verwendet haben – wäre aber froh, wenn Sie mir das mitteilen würden.
Freundliche Grüsse
Brigitte Marassi