Neue Studie bringt schockierendes Ausmass ans Licht:
96 Prozent aller Pflegenden erleben sexuelle Belästigung

Begrapscht, belästigt und viel zu oft nicht ernst genommen: Jetzt zeigt eine Studie das Ausmass von sexueller Belästigung von Pflegenden in Schweizer Spitälern und Altersheimen.

EPIDEMISCH: Fast jede Pflegerin und jeder Pfleger hat bei der Arbeit schon einmal sexuelle Belästigung erlebt. Trotzdem werden die Übergriffe in vielen Betrieben als Bagatellen abgetan. (Foto: Keystone)

Artikel 328 des Obligationenrechts ist glasklar. Arbeitgeber müssen «dafür sorgen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht sexuell belästigt werden». Doch Schweizer Spitäler und Altersheime versagen hier total. Diesen Schluss legt eine neue Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften nahe.

Die Pflegeforscherin Milena Bruschini wollte wissen, wie oft Pflegende sexuelle Belästigung durch Patienten erleben. Sie befragte 251 Pflegende und Pflegestudierende mit einem detaillierten Fragebogen. Das Resultat hat sie selber überrascht, wie sie gegenüber work bestätigte: 95,6 Prozent der Befragten wurden in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal sexuell belästigt. Und zwar von den Menschen, die von ihrer Pflege profitieren, also Heimbewohner und Patientinnen. Genaue Angaben zu den Täterinnen und Tätern wurden in der Schweizer Studie nicht erhoben. Internationale Studien hätten aber gezeigt, so Bruschini, dass die Belästigung überwiegend von Männern ausgehe.

52 Prozent aller befragten Pflegenden wurden innerhalb der letzten zwölf Monate betatscht.

«DAS WÜRDE DIR SICHER GEFALLEN»

Am häufigsten waren verbale Grenzüberschreitungen: 84 Prozent berichteten von sexistischen Witzen oder Erzählungen, 88 Prozent bekamen anzügliche «Komplimente». 64 Prozent wurden aufdringliche oder intime Fragen gestellt – etwa zu Körpermassen, Beziehungsstatus oder sexuellen Vorlieben.

Solche Belästigung erlebte auch Bruschini. Vor ihrem Masterabschluss in Pflegewissenschaft arbeitete sie mehrere Jahre selber als Pflegefachfrau. Einmal, so erzählt sie, musste sie in einem Zweibettzimmer Scherben zusammenwischen, weil ein Wasserglas zu Bruch gegangen war. In den Betten lagen zwei Männer. Und als sie am Boden kniete, sagte der eine: «Das würde dir sicher gefallen, wenn sie dich auch mal so schrubben würde.» Worauf der andere antwortete: «Vergiss es, die steht auf Jüngere.»

Erniedrigend sei das gewesen, sagt Bruschini: «Ich war so perplex, dass ich wortlos das Zimmer verliess.» Erst im nachhinein sei ihr in den Sinn gekommen, wie sie sich hätte wehren können.

Studien-Autorin Milena Bruschini. (Foto: ZVG)

ALS BAGATELLE ABGETAN

Weit verbreitet ist auch körperliche Belästigung: Laut der Studie wurden 52 Prozent innerhalb der letzten zwölf Monate betatscht, 34 Prozent auf unangenehme Weise umarmt, 24 Prozent gar gegen ihren Willen geküsst. Dies sind alles Straftaten. Laut Gesetz werden sie «auf Antrag mit Busse bestraft». Doch dazu kommt es meist nicht. Samuel Burri, Branchenleiter Pflege bei der Unia, kritisiert: «Heute werden noch in vielen Betrieben Übergriffe durch Patienten und Bewohner als Bagatellen abgetan. Den Pflegenden wird gesagt: So was gehört halt dazu. Tut es aber nicht!»

Sexuelle Belästigung komme in der Pflege so oft vor, dass sie viele gar nicht mehr als solche wahrnehmen würden, sagt dazu Forscherin Bruschini: «Zuerst müssen Pflegende erkennen, dass sie sich solches Verhalten nicht gefallen lassen müssen. Und dass nicht sie die Schuld tragen, wenn Patientinnen und Patienten Grenzen überschreiten.»

Andere Studien hätten gezeigt, dass Pflegepersonen oft den Fehler bei sich suchten statt bei den Belästigern: «Viele denken: Ich hätte mich halt nicht bücken sollen oder hätte mehr Abstand halten müssen.»

«NICHT SO GEMEINT» ZÄHLT NICHT

Bruschini räumt ein: Was eine Grenzverletzung sei und was nicht, das sei individuell verschieden. Was die eine vielleicht wegstecke, erlebe eine andere Person bereits als Belästigung. Vorgesetzte müssten deshalb unbedingt ein offenes Ohr für solche Vorfälle haben – und dann ihre Mitarbeitenden ernst nehmen. «Es ist nicht hilfreich, wenn ich den Mut aufbringe, das Thema anzusprechen, und dann höre: Ach, er hat es sicher nicht so gemeint.»

Denn wie ein Verhalten gemeint war, spiele keine Rolle, betont sie: «Ausschlaggebend ist nur, wie es bei der angesprochenen Person ankommt.»

Unia-Mann Burri empfiehlt deshalb Pflegenden, alle Vorfälle ihren Vorgesetzten zu melden und Fehlverhalten nicht als alltäglich abzutun. Wenn sich eine Person wiederholt übergriffig zeige, sollten Pflegende darauf bestehen, das Zimmer nur noch zu zweit zu betreten. Denn eins sei klar, so Burri: «Die Arbeit in der Pflege ist anstrengend genug – auch emotional. Niemand sollte darüber hinaus noch Belästigungen ertragen müssen.»

Bei Belästigung und Gewalt: Hier gibt’s Hilfe

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