Jean Ziegler ‒ la suisse existe

Konzentrations­lager Moria

Jean Ziegler
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Der Herbststurm «Zorbas» fegte über die Ägäis. Am schlimmsten wütete er auf der Insel Lesbos. Dort steht Moria, das weitaus grösste Flüchtlingslager auf griechischem Boden. Auf einem kargen, steilen Hügel über der Inselhauptstadt Mytilini steht die alte Kaserne. Sie beherbergte anfänglich weniger als 1500 Menschen, heute sind es über 8000. «Zorbas» zerriss Zelte, ­verwüstete Baracken und bedeckte ­Matratzen, Küchen, Latrinen mit Schlamm und ­Wasser. Die Ärzte und Krankenschwestern der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ­machten Fotos von vor Kälte zitternden ­Kindern, die unter offenem Himmel oder in zerstörten Baracken auf durchnässten Matratzen lagen; von abscheulichen Fäkalienströmen, die aus den Latrinen flossen; von Menschen, die hilflos und hungrig für ein warmes Essen Schlange standen. All diese Bilder stellte die Hilfsorganisation ins Internet.

NATIONALE SCHANDE. Filippo Grandi, der temperamentvolle, energische Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge, sah in Genf die Fotos, bestieg das nächste Flugzeug nach Athen und versuchte, dem griechischen Verteidigungs­minister Panos Kammenos ins Gewissen zu reden. Denn die Flüchtlinge sind mehrheitlich in Militäranlagen untergebracht. Und das Militär sollte die Versorgung mit Nahrung und Trinkwasser übernehmen.

Griechenland hat unter der Schuldknechtschaft, die ihm von der EU zur Profitsicherung vornehmlich deutscher Gläubigerbanken ­aufgezwungen worden ist, schrecklich gelitten. Die Brüsseler Schuldenpolitik ist ein Ver­brechen am griechischen Volk. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass verschiedene Ministerien der Regierung Tsipras immer noch bis auf die Knochen korrupt sind. Selbst ­Kyriakos Mitsotakis, der Chef der konservativen Opposition, bezeichnet die Flüchtlingslager als «eine nationale Schande». Und mein Freund und Kollege, der Soziologe Meletis Meletopoulos, schrieb mir kürzlich: «Moria? Ein Konzentrationslager.»

Viele Tausend Flüchtlingsfamilien
stehen in Moria vor einem fürchterlichen dritten Winter.

AKUTER PERSONALMANGEL. Die EU hat Griechenland für den Unterhalt der Flüchtlinge in den letzten drei Jahren eine Milliarde Euro überwiesen. Seit 2017 ermittelt das­ EU-Amt zur Betrugsbekämpfung (Olaf) gegen ­griechische Minister.

Das Konzentrationslager Moria ist ein sogenannter Hotspot. Beamte verschiedener Länder sollen dort unter EU-Aufsicht die Asylgesuche der ankommenden Flüchtlinge prüfen. Das Problem: Die Asylverfahren gehen wegen akuten Personalmangels nur sehr schleppend voran. Viele Tausend Flüchtlingsfamilien sehen deshalb in Moria einem ­fürchterlichen dritten Winter entgegen.

Die griechischen Flüchtlingslager gehören schleunigst aufgelöst. Die Schweiz wird der EU noch in diesem Jahr einen Kohäsions­beitrag von gut einer Milliarde Franken zahlen. Der Bundesrat sollte unbedingt verlangen, dass zumindest ein Teil unserer ­Steuergelder für die Umsiedlung der ge­peinigten Flüchtlinge verwendet wird.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden ­Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor.

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