Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

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Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Es gibt Geschichten, die sind so haarsträubend, dass sie nur das echte Leben schreiben kann. Zum Beispiel jene des Gastrochefs, der seine Mitarbeiterinnen mit Sex-SMS belästigt (zur Recherche). Oder der Treuhänder, der – alles an­dere als treu – die Büezer der ihm anvertrauten Firma im Regen stehen lässt (zum Beitrag). Oder ein SVP-Chef, der derart plump argumentiert, dass es schon fast eine Freude wäre, wenn es denn nicht um eine brandgefährliche Initiative ginge. So geschehen kürzlich im Schweizer Radio.

Typisch

SVP-Präsident Marcel Dettling gibt ein Interview zur «Nachhaltigkeitsinitiative». Sein Mantra: Die Ausländer, die Ausländer, die Ausländer sind schuld. An explodierenden Mieten, Stau und Pro­blemen in ganz «vielen Lebensbereichen». ­Typisch SVP-Vereinfachungsmethode. So weit, so erwartbar. Schockierend nur, wie weit das «Problem Ausländer» in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Das hat die Monsterdebatte im Nationalrat über diese SVP-Initiative gezeigt.

Zufällig

Aber dann, als die Moderatorin Dettling fragt, wann er letztmals persönlich froh um die Arbeit eines Ausländers oder einer Ausländerin gewesen sei, folgt die überraschende Antwort: «Ich habe vor allem Freude, wenn sie hierherkommen und arbeiten.» Aber Herr Dettling, dann ist ja alles in bester Ordnung! Sie können Ihre ­Chaos-Initiative zurückziehen. Oder zugeben, dass Migrantinnen und Migranten, insbesondere Geflüchtete, als Sündenböcke herhalten müssen, wenn Sie doch in Wirklichkeit lieber gleich allen Lohnabhängigen an den Kragen wollen (zur work-Analyse).

Denn: Der überwiegende Teil der Menschen kommt aus der Europäischen Union in die Schweiz, um hier zu arbeiten. Ihr Anteil betrug zwischen 2011 und 2023 gut 87 Prozent, schreibt das Bundesamt für Statistik (BfS). Der Asylbereich macht für die letzten 12 Jahre nur 13 Prozent der Einwanderung aus. Letztere sind Menschen, lieber Herr Dettling, die vor Bomben, Hunger und Hoffnungslosigkeit geflohen sind. Das würden Sie auch tun, wenn Sie nicht zufällig in der Schweiz geboren worden wären. Und damit werden Sie schon langsam zur Rarität.

Rekordtief

Denn die Geburtenrate sinkt in der Schweiz und liegt gegenwärtig bei rekordtiefen 1,3 Kind pro Frau. Fakt ist: Der Hauptgrund für das Bevölkerungswachstum in der Schweiz ist die Migration. Das BfS berechnet Szenarien für die Bevölkerungsentwicklung 2025 bis 2055. Für 2055 sind demnach 107'000 Todesfälle zu erwarten und 89'000 Geburten. Das heisst: Es sterben mehr Menschen, als geboren werden. Die Bevölkerung wird schrumpfen.

Sehnsüchtig

Doch Dettling vereinfacht munter weiter: Der Wohlstand schrumpfe, sagt er im Interview. «Jeder in der Schweiz hat weniger», natürlich wegen der «Ausländer». Aber nein, Herr Dettling, nicht jeder und auch nicht jede. Ganz oben gibt es Könige und einige wenige Königinnen, die ihre Kronen jedes Jahr mit ein paar zusätzlichen Diamanten schmücken können (zur work-Story). Und damit wir weiterhin Menschen haben, die pflegen, putzen und bauen, schwebt der SVP ein Kontingentsystem vor. Auf die ­Frage, ob dadurch nicht ein neues Bürokratiemonster entstehen würde, antwortet Dettling entlarvend ehrlich: «Das ist alles schon bereit.» Und begründet das mit den Kontingenten aus Drittstaaten, meint aber wohl: Das hatten wir schon – mit dem menschenverachtenden Saisonnierstatut, zu dem die SVP so gerne zurückmöchte.

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