So hausten Saisonniers: Auf dem Bührer-Areal in Biel stehen noch die einzigen original erhaltenen Baracken

Rundgang in einem Denkmal der Schande

Ralph Hug

Als ob die Baubüezer eben erst gegangen wären: so gut sind die schäbigen Massenverschläge von Saisonniers in Biel noch erhalten. Es sind gefährdete Denkmäler einer dunklen ­Geschichte. work hat sich vor Ort umgeschaut.

Nichts regt sich. Das Bührer-Areal unweit des Bahnhofs Biel liegt verlassen da. Das Eingangstor ist mit Stacheldraht gesichert. Ein Securitaswächter öffnet und winkt herein. Der Mann hat nicht viel zu tun, denn der Sturm ist längst vorbei. Der Sturm – das war die überraschende Besetzung des Geländes durch ein Besetzerkollektiv namens «L’équipe» im vergangenen Juni.

Seither ist das ehemalige Gelände der Baufirma Bührer & Co. Stadtgespräch. Aber nicht bloss wegen der Besetzung, die nur wenige Wochen dauerte. Sondern weil hier noch Saisonnier-Baracken stehen, die anderswo längst verschwunden sind: schäbige Massenverschläge, in denen die Arbeitsmigranten aus Italien, Spanien und Ex-Jugoslawien jahrelang hausen mussten. Ein eigentliches Denkmal der Schande. An die hundert Bauarbeiter sollen hier gewohnt haben.

ZEITZEUGNIS: In diesen Baracken in Biel lebten
Saisonniers unter prekären Bedingungen. (Foto: Lucas Dubuis)

KARGE KAMMERN

Pascal Djalti führt work in die Baracken. Djalti ist im Amt für Grundstücke des Kantons Bern für das Bührer-Areal zuständig. Der Kanton ist Besitzer des Geländes, seit die Baufirma weggezogen ist. Im ersten Stock eines Magazingebäudes befinden sich einige dieser Unterkünfte: Die Zimmer sind einfachste Bretterverschläge, eins reiht sich ans andere. Überall liegt Staub. Von der Decke hängen Glühbirnen, und vom einstigen Inventar sind nur kleine Ölöfen, ein Schrank und stumpfe Spiegel geblieben. Waschtröge aus Blech zeugen davon, dass hier einmal Menschen lebten. In den kargen Kammern sitzt die Stimmung von öden Massenlagern.

Alvaro Bizzarri. (Foto: ZVG)

Legendär: Saisonniers-Filme

Alvaro Bizzarri kam 1955 als Zwanzigjähriger in die Schweiz. Er arbeitete als Schweisser in Biel, bevor er in ein Fotogeschäft wechselte und als Autodidakt das Kamerahandwerk erlernte. Empört über den aufbrandenden Rassismus der Schwarzenbach-Ära, drehte der junge Kommunist auf Super-8 zwei ­legendäre Filme über das Elend der Saisonniers und die sozialen Folgen des berüchtigten Saisonnier­statuts: «Lo stagionale» (1971) und «Il rovescio della medaglia» (1973).

BARACKEN-BIEL. Beide Filme sind starke Werke, die in jeden Schulunterricht gehören, zeigen sie doch auf, wie die Schweiz während Jahrzehnten die Menschenrechte von Hunderttausenden von Migrantinnen und Migranten in der Schweiz missachtete. (rh)

Der Film, der in den Baracken von Biel gedreht wurde, ist auf Youtube zu sehen. Die Genfer Soziologin Morena La Barba hat Bizzarris Filme 2009 auf DVD herausgegeben.

Hinter einer Türe kommen eine alte Pelerine und ein Paar staubige Schuhe zum Vorschein. Im Türspalt steckt eine Zeitung. Es ist der «Corriere della Sera», Ausgabe vom 18. Oktober 1956. An einer Wand kleben vergilbte Sticker der Fussballclubs von Real Madrid und Deportivo La Coruña. Die Szenerie wirkt geisterhaft. Die Besichtigung wird je länger, je mehr zu einer Reise in die Vergangenheit. Genauer: in die 1950er Jahre, als zu Beginn der Hochkonjunktur Tausende Saisonniers, Männer und Frauen, aus Europas Süden in die Schweiz kamen. Die Wirtschaft brauchte billige Arbeitskräfte, das Saisonnierstatut machte sie zu ­Arbeitssklaven. Viele arbeiteten auf dem Bau – und lebten in prekären Verhältnissen. Wie im Bührer-Areal. Während sie andernorts verschwunden sind, blieben die Baracken hier unverändert. Und das bis 2002, als die letzten Saisonniers noch an der Arteplage der Expo 02 mitbauten

STRENGES REGLEMENT

Verstösse gegen die Hausordnung kostete bis zu einen Tageslohn.

Die Zimmer im Magazin wirken fast komfortabel im Vergleich zu den Räumen im Dachstock der Schreinerei, die auch zum Firmenareal gehört. Dort waren ebenfalls Saisonniers untergebracht. Im Estrich! Ohne warmes Wasser, nur mit einem Stehklo und minimalen ­sanitären Einrichtungen. Die Hausordnung macht klar, wie die Leute unter strengster Kontrolle standen. Sie durften keinen Lärm machen, keine Besuche empfangen und keine Wäsche herumliegen lassen. Der Gebrauch von Petrollampen war strengstens untersagt. Wer die Bettwäsche verschmutzte oder sich gar in Arbeitskleidern hinlegte, wurde haftbar gemacht. Bei Nichtbeachtung drohten Bussen von zwanzig bis fünfzig Franken, die vom Zahltag abgezogen wurden. Der Stundenlohn für Saison­niers betrug 1970 um die sechs Franken. Ebenfalls vom Lohn abgezogen wurde ein Betrag für die Miete dieses «Mause­lochs».

Dies alles ist dank Alvaro Bizzarris Film «Die Kehrseite der Medaille» (1974) bekannt. Der Dokumentarfilm ist eine 45minütige Anklage gegen die Ausbeutung von Saisonarbeiterinnen und -arbeitern in der Schweiz (siehe Box). Bizzarri drehte in Biel, ging mit der Kamera durch die Verschläge im Bührer-Areal und befragte Landsleute. Jene, die überhaupt zu reden ­wagten, beklagen sich bitter über die unhaltbaren Zustände. Im Off-Kommentar wird die Schweiz als profitgieriges, ausbeuterisches Land angeprangert, das mit dem Saisonnierstatut die Menschenrechte verletze, was aber niemanden gross kümmere.

Bizzarris Film ist bald fünfzig Jahre alt. Dass er jetzt wieder im Gespräch ist, ist unter anderem der Aufmerksamkeit von Florian Eitel zu verdanken, Kurator im Neuen Museum Biel. Eitel hatte für die Ausstellung «Wir, die Saisonniers … 1931–2022» Bizzarris Film angeschaut und festgestellt, dass er in Bieler Baracken gedreht wurde. «Ein schweizweit einzigartiges Zeugnis», sagt Florian Eitel. Er plädiert für die Erhaltung des Areals und findet: «Eigentlich müsste das ganze Ensemble auf den Ballenberg, denn es zeigt ja, wie ein typischer Bau für sogenannte Gastarbeiter aussah.»

Im Bührer-Areal lebte es sich aber auch komfortabel, um nicht zu sagen luxuriös. Die Villa des Patrons ist ebenfalls komplett erhalten. Sie steht nur wenige Meter neben den Baracken. Unten befinden sich die Büros der Baufirma und oben auf zwei Stockwerken geräumige Wohnungen mit Salons, Cheminée und allem Komfort. Die Küche ist bestens ausgerüstet. Auch ein Schulthess-Waschvollautomat mit Lochkartensteuerung ist noch da – 1954, als die Villa erbaut wurde, das Nonplusultra für den modernen Haushalt.

UNMENSCHLICH

Hier Baracken für die Saisonniers, dort Wohlstand für den Patron, und das alles gleich nebeneinander: Das Bührer-Areal kann als perfektes Abbild einer Klassengesellschaft herhalten. Doch Diskriminierung und Demütigung von Saisonniers störten damals nur wenige. In Bizzarris Film werden Pendler, die täglich an den ­Baracken vorbeifuhren, gefragt, ob sie wüssten, was in den Baracken sei. Sie dachten, es sei Baumaterial, aber nicht Menschen. Das ist eine der entlarvendsten Szenen im Film.

Während die Arbeiter im Schatten blieben, genoss Patron Nicolas Bührer das Rampenlicht. Bührer war in den 1970er und 1980er Jahren ein bekannter Autorennfahrer. Auf Porsche und BMW nahm er an Rennen in Le Mans, Hockenheim und Spa-Francorchamps teil. Stadtbekannt ist, dass der Chef in den Garagen der Schreinerei an seinen Boliden herumschraubte, ungeachtet dessen, dass oben im Estrich Saisonniers hausten.

Was mit dem Gelände geschieht, ist offen. Seit der Besetzung liegt die Forderung nach Erhaltung auf dem Tisch. Derzeit ist eine Zwischennutzung im Gespräch. Längerfristig soll dort ein Erweiterungsbau des nahe gelegenen Gymnasiums entstehen. Auch der Verein «Tesoro» hat sich eingeschaltet. Er setzt sich für die Aufarbeitung des Leids an Saisonnierfamilien ein. Für ihn ist klar, dass das Bührer-Areal ein wichtiger Erinnerungsort ist. Er dürfe nicht zerstört werden, hält er in einem Schreiben an den Kanton fest.

1 Kommentar

  1. Kasper

    Hallo

    Kaum zu glauben das es so was in der Schweiz einmal gegeben hat, selbst Tiere wohnen und leben ja besser.

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