Editorial

Widerspenstige Damen

Anne-Sophie Zbinden

Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Leoti Blaker schaffte es 1903 in die Schlag­zeilen eines New Yorker Abendblattes: Als der Mann neben ihr im vollgepferchten Pferde­tram immer dichter heranrückte und seine Hand an ihre Taille legte, fasste sie sich kurzerhand an den Hut und bohrte ihm die Hutnadel in den Arm. Emma Miller, engagierte Gewerkschafterin und Kämpferin für das Frauenstimmrecht, wehrte sich an einer Demonstration in Brisbane, Australien, gegen ihre Verhaftung: mit ihrer Hutnadel stach sie auf das Pferd des Polizisten ein.

Hinaus zum 8. März! Hinaus zum 14. Juni!

NADEL. Die Mode der Belle Epoque (etwa 1884 bis 1914) mit ihren engen Korsetts und überlangen Röcken brachte die Frauen einer ständigen Ohnmacht nahe und machte ihnen das Gehen schwer. Aber die Hutnadel, mit der sie ihre ausladenden Hüte befestigten, gab ihnen ein Mittel in die Hand, mit dem sie sich gegen Übergriffe wehren konnten. Oder auch mal, wie Bertha Benz, Gattin des Auto­pioniers Carl Benz, für die Reinigung eines verstopften Benzinrohrs verwenden konnten.

Doch dann wurde der Spiess umgedreht: Die Gemüter erhitzten sich nicht etwa ob der Gefährdung der Frauen im öffentlichen Raum, sondern ob der Gefahr der Frauen-Hutnadeln für die Männer. Bald war vom «Hutnadelkrieg» die Rede, von «widerspenstigen Damen», die ihre «Hutspiesse trotz Ver­boten ohne Schutzkappe weiter spazierenführen». Es kursierten Horrorgeschichten über durchgebohrte Wangen und lebensgefähr­liche Stiche. Von London bis New York, von Zürich bis Sydney wurden ungeschützte Hutnadeln in öffentlichen Verkehrsmitteln ver­boten und hätten am besten ganz verschwinden sollen. Doch die Frauen liessen sich ihre Nadeln nicht nehmen, lieber kassierten sie Geldstrafen oder gar Gefängnis.

ÜBERGRIFF. Der Rest ist Geschichte, möchte frau meinen. Aber weit gefehlt. In der Schweiz hat mindestens jede fünfte Frau ab 16 Jahren einen sexuellen Übergriff erlebt, mehr als jede zehnte Frau erlitt Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen. Die Täter bleiben oft unbestraft. Gleichberechtigung ist auch in der Arbeitswelt keine Selbstverständlichkeit. Frauen verdienen im Schnitt 18 Prozent weniger als Männer. Sie haben einen Drittel weniger Rente als Männer, bei der Pensionskasse sind’s gar 60 Prozent weniger – und trotzdem veranstalten die bürgerlichen und rechten Parteien bei der BVG-Revision ein Trauerspiel.

Frau sein ist auch bei den Uhrmacherinnen im Vallée de Joux nicht ohne. Arbeiterin Cathy Dematraz (53) berichtet in der grossen work-Reportage von Mobbing und sexueller Belästigung. Von schwangeren Kolleginnen, die Angst haben, den Job zu verlieren. Und von Löhnen, die bei den Frauen rund 1000 Franken tiefer sind als bei ihren männlichen Kollegen. Doch das machen Dematraz und ihre Kolleginnen nicht mehr mit – sie sind bereit für den Frauenstreik am 14. Juni. Denn vereinte Women­power hat uns das Frauenstimmrecht gebracht, das Recht, ein Konto zu eröffnen, die Mutterschaftsversicherung, AHV-Betreuungsgutscheine und vieles mehr.

Doch in Sachen Gleichberechtigung ist nichts für immer errungen. Zurzeit geht es eher rückwärts statt vorwärts. Darum: hinaus zum 8. März, hinaus zum Frauentag! Hüte sind zwar nicht mehr in Mode, die lila ­Dauerwelle hingegen schon.

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