Simona Isler und Lina Gafner leiten das Gosteli-Archiv – das Gedächtnis der Schweizer Frauengeschichte

«Ohne Frauenbewegungen würden wir nicht Velo fahren!»

Anne-Sophie Zbinden

Das Gosteli-Archiv hütet die Geschichte der Frauenbewegung. Damit wir nie vergessen, wem wir das Frauenstimmrecht, die  Mutterschaftsversicherung oder die professionelle Pflegerinnenausbildung zu verdanken haben.

SIE BEWAHREN DIE SCHWEIZER FRAUENGESCHICHTE: Lina Gafner (links) und Simona Isler (rechts) sind Historikerinnen und seit August 2022 die Co-Leiterinnen des Gosteli-Archivs. (Foto: Adrian Moser)

work: Mitten im Altikofenquartier in Worb­laufen BE, umgeben von einer grossen Wiese, steht ein herrschaftliches Haus. Hier befindet sich das Gosteli-Archiv. Wie fühlt es sich an, an einem solchen Ort zu arbeiten?

Lina Gafner: Man fühlt die Geschichte, die in diesem alten Haus steckt, die Arbeit und das Engagement für die Frauen. Die Archivgründerin Marthe Gosteli hat das Gut Altikofen nach dem Tod ihres Vaters gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester verwaltet, was nicht einfach war Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie mussten Land verkaufen, für Eisenbahnschienen, später für die Autobahn, dann für ein Schulhaus und für Siedlungen. Die Geschäftspartner haben die Frauen wohl ziemlich unter Druck gesetzt und ihnen das Land sicher nicht zu den besten Bedingungen abgekauft.

Simona Isler: Wir sind immer noch umgeben von Pferdegewieher! Marthe Gosteli war eine leidenschaftliche Reiterin und hat auch therapeutisch mit Pferden gearbeitet.

Marthe Gosteli war eine berühmte Vorkämpferin für das Frauenstimmrecht. Sie war auch Bauerntochter und SVP-Mitglied. Simona Isler, Sie sind ihr vor ihrem Tod 2017 bei Ihren Recherchen hier im Haus begegnet. Wie waren diese Begegnungen?

Isler: Ja genau, Marthe Gosteli war Bauerntochter und ist im Bauernhaus aufgewachsen. Erst gegen Ende ihres Lebens bezog sie ein Zimmer hier im Archivhaus. Nach der Einführung des Frauenstimmrechts 1971, sie war zu diesem Zeitpunkt schon Mitte 50, wurde sie Mitglied der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), aus der später die SVP hervorging. Frau Gosteli ist mit ihrer Parteiwahl der bäuerlichen und familiären Tradition gefolgt. Sie hat übrigens die interessante Beobachtung gemacht, dass der Beitritt der Frauen in die unterschiedlichen Parteien die Frauenbewegung gespalten und geschwächt hat. Das hat sie sehr bedauert.

Als ich als Studentin für meine Masterarbeit die Dokumente der Radikalfeministinnen* von Bern und Freiburg erforschte, bin ich ihr regelmässig begegnet. Die Küche hier im Haus hatte einen sehr privaten Charakter, ihre Sachen waren im Kühlschrank. Und es war ihre Kaffeemaschine in der Küche, die man aber mitbenutzen konnte. Die Grenze zwischen ihrer Person und ihrem Archiv war sehr fliessend. Sie war eine eindrückliche Persönlichkeit, der Austausch mit ihr war immer sehr berührend. Und ihr war es sehr wichtig, das Archiv für alle Frauenbewegungen zu sein, für das ganze politische Spektrum.

Foto: Keystone

Marthe Gosteli: Kämpferin für das Frauenstimmrecht

Marthe Gosteli (1917 – 2017) wuchs als Bauerntochter in Worblaufen bei Bern auf. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete sie in der Abteilung Presse und Funkspruch des Armee­stabes. Nach dem Krieg leitete sie die Filmabteilung des Informations-
dienstes in der US-amerikanischen ­Botschaft in Bern.

BEWEGT. Marthe Gosteli war Präsidentin des bernischen Frauenstimmrechtsvereins, danach Vizepräsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenvereine (BSF, heute Alliance F). 1970/1971 präsidierte sie die Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau. Gosteli trug massgeblich dazu bei, dass 1971 die Schweizer Männer das Frauenstimmrecht annahmen.

Die Bürgerliche kandidierte 1971 für die erste «Frauenlegislatur»: Sie wollte für die BGB (die sich im selben Jahr in SVP umbenannte) in den Nationalrat, schaffte die Wahl aber nicht.

Im Jahr 1982 gründete Gosteli das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung und die Gosteli-
Stiftung (gosteli-foundation.ch). (asz)

1982 gründete Marthe Gosteli das Archiv und finanzierte es mit ihrem Vermögen. Nach ihrem Tod war die Zukunft des Frauenarchivs ungewiss. Erst als der Bund finanzielle Unterstützung versprach, zog der rechtsbürgerliche Kanton Bern nach. Was hätte der Verlust des Gosteli-Archivs bedeutet?

«Wir wollen den Frauen am 14. Juni sagen: Wir sind euer Archiv, euer Gedächtnis.»

Gafner: Es bestand die Möglichkeit, die Bestände ins Bundesarchiv überzuführen. Dann wäre die Schweizer Frauengeschichte einfach ein kleiner Teil des riesigen Bundesarchivs und der Männergeschichte geworden und nicht auf die gleiche Weise sichtbar geblieben.

Isler: Die meisten Archive sind ja staatliche Archive. Gemeinden, Kantone und der Bund legen dort Rechenschaft ab über ihr Handeln. Dadurch, dass die Frauen erst so spät das Stimm- und Wahlrecht bekamen, existieren sie in diesen Archiven jedoch nicht. Sie haben aber natürlich schon vor 1971 politische Prozesse mitgestaltet. Frauen haben Ex­pertinnengruppen gegründet, Briefe geschrieben, Petitionen lanciert, haben mitgeredet und sich eingemischt. Ohne Frauenarchiv kann die Geschichte der politischen Schweiz nicht geschrieben werden.

Und ohne das Frauenarchiv würde das Verständnis dafür fehlen, wie die aktuellen Verhältnisse zustande gekommen sind.

Gafner: Zum Beispiel wenn wir uns fragen, was der 8. März für die Geschichte der Frauen für eine Bedeutung hat, dann lohnt sich ein Blick ins Archiv. Seit wann gibt es den Frauentag in der Schweiz? Wie wurde er früher gefeiert, und wie hat er sich über die Jahrzehnte verändert? Nur so können wir nachvollziehen wie wichtig er für die Frauenbewegung ist.

Isler: Oder nehmen wir die heutigen Arbeitsbedingungen in der Pflege, die momentan stark in der Kritik sind. Dank dem Archiv können wir herausfinden, ob das ein neues Phänomen ist. Oder wie die Bedingungen früher waren und wie sich Frauen für den Pflegeberuf eingesetzt haben. Was gab es für politische Bewegungen? Was für Anliegen und Ak­tionsformen? Die Vergangenheit gibt zwar keine Rezepte für die Gegenwart, ist aber eine tolle Inspirationsquelle.
Gafner: Marthe Gosteli sagte immer: «Ohne Geschichte keine Zukunft.»

Das Archiv hat über einen Kilometer Akten. Was für Dokumente wurden vor dem Altpapier gerettet?

Isler: Wir sind das Archiv der klassischen Frauenberufe, also eigentlich auch ein Gewerkschaftsarchiv. Wir beherbergen die Dokumente des Kindergärtnerinnenverbandes, des Hebammenverbandes, wir haben Archivmaterial von verschiedenen Pflegerinnenschulen und -organisationen, Hauswirtschaftsschulen, Bäuerinnenschulen. Die Bildungsinstitutionen dieser Frauenberufe sind Anfang des 20. Jahrhunderts aus der Frauenbewegung entstanden. Auch viele weitere Frauenorganisationen sind bei uns archiviert. Darüber hinaus haben wir auch Dokumente der Verbände hier, die gegen das Frauenstimmrecht waren. Oder biographische Dokumente von über 11 000 Frauen, die in Lexika nicht zu finden sind, weil wir das Kriterium der Wichtigkeit anders auslegen als andere Nachschlagewerke. Unsere Archivbestände sind online für alle Interessierten zugänglich.

Welches sind Ihre persönlichen Archiv-Perlen?

Isler: Einer meiner Lieblingsbestände ist derjenige der Pflegerinnenschule Zürich. Die Schule wurde Ende des 19. Jahrhunderts gegründet. Da war der gemeinnützige Frauenverein federführend, zusammen mit der Ärztin Anna Heer und der Krankenschwester Ida Schneider. Den beiden Frauen war es ein Anliegen, den Pflegeberuf zu professionalisieren. Heer und Schneider wollten eine Pflege­ausbildung nach englischem Vorbild. Dafür haben sie Geld gesammelt, die Schule aufgebaut und ein Frauenspital dazu. Zu Beginn war es eine reine Fraueninstitution, von Frauen geführt, für Frauen – nur der Abwart war ein Mann. Im Archiv haben wir auch die Uniformen, Häubchen und Broschen der Pflegerinnen.

Gafner: Ich bin immer wieder überwältigt von unseren Fotobeständen. Da haben wir einen unglaublich reichen Bilderschatz, der Frauenarbeitswelten abbildet.

Isler: Und da sind natürlich die Dokumente der heutigen SV-Group, die ursprünglich Verband Soldatenwohl hiess, gegründet von Else Züblin-Spiller, um Soldaten alkoholfrei zu verpflegen. Wir haben Geschirr, Uniformen, Lohnbuchhaltung und ganz viele Fotos der SV-Group, die heute zu den grössten Catering-Firmen gehört.

Wie ist der Frauenstreik von 1991 dokumentiert?

Isler: Wir haben regionale Frauenkomitees, etwa von Solothurn oder von Rapperswil, und ein Dossier mit Zeitungsartikeln. Dieser Bestand wird aber sicher noch wachsen, da viele Frauen ja noch leben und aktiv sind.

Wie stand Marthe Gosteli zum Frauenstreik von 1991?

Gafner: Mit der Streikbewegung konnte sie meines Wissens nicht so viel anfangen.

Und wie sieht es aus mit dem Frauenstreik von 2019? Da wird es ja auch viele digitale Dokumente geben …

Isler: Von dieser neusten Frauengeschichte ist das Material noch nicht archiviert, und die Digitalisierung ist eine grosse Herausforderung für alle Archive, auch für uns! Aber wir haben jetzt zum Glück die Ressourcen, um ein sogenanntes digitales Langzeitarchiv aufzubauen. Wir wollen auch am 14. Juni 2023 präsent sein und den Frauen sagen, wir sind euer Archiv, euer Gedächtnis.

Was plant das Archiv für den 14. Juni 2023?

Gafner: Wir wollen wichtige Fakten zur Frauengeschichte aufbereiten, die eigentlich bekannt sind, aber die wir immer wieder suchen müssen.

Zum Beispiel?

Gafner: Was sind Erfolge der Frauenbewegung, was wäre ohne sie? Wir würden nicht Velo fahren, wir wären nicht berufstätig, wir könnten nicht stimmen und wählen, wir hätten keinen Zugang zu Bildung, wir hätten nicht das Recht, einen Vertrag zu unterschreiben oder ein Konto zu eröffnen …

… wir hätten keine Hosen an!

Gafner: Vielleicht auch das. Aber sicher hätten wir keine Mutterschaftsversicherung, keine Betreuungsgutscheine in der AHV. Es ist gerade auch für junge Frauen wichtig zu wissen, dass diese Errungenschaften von Frauen erkämpft wurden und nicht einfach schon immer da waren.

Und auch immer wieder neu erkämpft werden
müssen.

Isler: Jede Generation muss sich ja neu erfinden und auch abgrenzen von den älteren Frauen. Aber trotzdem ist es wichtig zu wissen: wir müssen nicht immer wieder bei null anfangen. Wir können auch etwas lernen von unseren Müttern oder Grossmüttern. Das gibt eine Kontinuität, die uns stark macht.

Sie führen das Archiv als Co-Leiterinnen. Diese fortschrittliche Leitungsform ist in der männerdominierten Arbeitswelt noch immer selten und galt lange Zeit als realitätsfern. Wieso klappt es bei Ihnen?

Isler: Zur Präzisierung: es ist eine Co-Leitung, also zwei Stellen, und nicht das Teilen einer Stelle im Jobsharing.

Gafner: Ich sehe sehr grosse Vorteile in dieser Leitungsform. Aber es braucht grosses Vertrauen zueinander und auch viel Offenheit. Und eine Kultur, die Fehler zulässt. Als Co-Leiterinnen können wir uns auch in schwierigen Situationen austauschen. Das ist sehr wertvoll, weil man sonst in solchen Positionen total einsam ist.

Isler: Für diese Kultur der Zusammenarbeit und des Umgangs mit Fehlern kann ich persönlich sehr viel mitnehmen aus meiner Erfahrung als Aktivistin in der Frauenbewegung. Weil wir uns viel überlegt und ausprobiert haben, wie wir zusammenarbeiten wollen.

Sie haben die Leitung des Archivs vor gut einem halben Jahr übernommen, just zum 40-Jahr-Jubiläum. Gibt’s das Gosteli in 40 Jahren noch?

Gafner: Solange es Frauenbewegungen gibt und ihre Dokumente nirgends zentral gesammelt werden, so lange braucht es das Gosteli-Archiv. Und wir werden aktiv auf Personen und Organisationen zugehen. Das ist sehr wichtig, weil viele Frauen noch immer in falscher Bescheidenheit denken, es sei nur ein vernachlässigbarer Teil, den sie beitragen.

Auf welche Frauen möchten Sie denn zugehen?

Isler: In einem nächsten Schritt werden wir aktiv auf ­Migrantinnenorganisationen zugehen und uns in der französischsprachigen Schweiz vernetzen. Weitere Schwerpunkte folgen danach.

Gafner: Wir möchten, dass das Archiv ein Ort der Begegnung wird, des Dialogs, an dem verschiedene politische ­Vorstellungen und Utopien aufeinandertreffen können. Momentan ist es noch recht still, wir möchten gerne ein lautes Archiv werden!

* Radikalfeministinnen Bern/Freiburg: Diese Gruppe entstand Ende der 1970er Jahre und war Teil der schweizerischen Frauenbefreiungsbewegung.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.