Vor der grossen AHV-Abstimmung am 25. September: 4 Männer aus 4 Generationen sagen, warum sie 2 x Nein stimmen.
SP-Ständerat Paul Rechsteiner. (Foto: Keystone)
Paul Rechtsteiner (70), SP-Ständedrat SG:«Bei einem Ja droht ein höheres Rentenalter»
«2021 lag der Betriebsgewinn der AHV 2,6 Milliarden im Plus. Das ist dreimal mehr als prognostiziert. Das Kapital der AHV liegt bei rekordhohen 49,7 Milliarden Franken. Trotzdem will AHV 21 die Renten der Frauen verschlechtern. Eine Heraufsetzung des Rentenalters ist wirtschaftlich nichts anderes als ein Rentenabbau. Die Verschlechterung der Rente pro Frau beläuft sich auf rund 26 000 Franken. Betroffen sind bei den Verheirateten am Ende auch die Männer.
KEINE GLEICHSTELLUNG. Befürworter der Reform argumentieren mit der Gleichstellung. Nur: Die Rentendiskriminierung der Frauen ist noch viel grösser als die Lohndiskriminierung. Ihre Pensionskassenrenten sind, soweit überhaupt vorhanden, oft klein und im Durchschnitt halb so hoch wie jene der Männer. Bis das korrigiert ist, wird es Jahrzehnte dauern. Die Heraufsetzung des Rentenalters zum heutigen Zeitpunkt ist gleichstellungspolitisch verkehrt.
Unsozial ist auch, dass AHV 21 für die Frauen die Möglichkeit für den vorzeitigen Rentenbezug (mit gekürzter Rente) von 62 Jahren auf 63 Jahre heraufsetzt. Bei der vorzeitigen Pensionierung steht unter den Branchen der Finanzsektor mit Abstand an der Spitze. Für Privilegierte mit hohen Löhnen spielt die AHV eine untergeordnete Rolle. Im Gegensatz zu Angestellten in Branchen der Langzeitpflege, dem Verkauf oder der Reinigung. Gerade für sie ist der Arbeitsmarkt ab 60 Jahren schwierig geworden, wenn sie gesundheitliche Probleme haben oder das Pech, die Stelle zu verlieren.
Die Heraufsetzung des Rentenalters in der AHV ist umso ungerechter, als die durchschnittliche Lebenserwartung statistisch mit der sozialen Stellung sinkt. Wer weniger verdient, bezieht auch weniger lang Rente: Das ist die Ungleichheit vor der Lebenserwartung, vor dem Tod.
FALSCHER ZEITPUNKT. Auf den ersten Blick scheint positiv, dass AHV 21 mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozente verbunden wird. Je mehr Geld in der AHV-Kasse, desto besser, könnte man argumentieren. Eine höhere Mehrwertsteuer ist aber ungeniessbar, wenn sie mit einer Verschlechterung der Renten verknüpft ist. Und bei stark steigender Teuerung kommt sie zum falschen Zeitpunkt.
Die Wirtschaftsverbände investieren massiv in die Abstimmungskampagne. Ihnen und den bürgerlichen Parteien geht es um viel mehr: um den Einstieg in eine allgemeine Erhöhung des Rentenalters für alle. Die von Banken und Versicherungen gesponserte Initiative der Jungfreisinnigen für Rentenalter 67 ist bereits im Parlament hängig. Bei einem Ja zur AHV 21 droht sofort die nächste Auseinandersetzung um ein höheres Rentenalter. Mit einem Nein zu AHV 21 am 25. September 2022 ist sie für die nächsten Jahre erledigt.»
Pierre-Yves Maillard (54), Präsident Schweizerischer Gewerkschaftsbund«0,08 %, 800 Millionen, 8 Milliarden»
«Für viele Frauen ist das Alter nach 64 keine Zeit, um zu reisen oder ihr Leben zu geniessen. Viele arbeiten als Gratis-Kinderbetreuerinnen für ihre Töchter und Söhne, weil die jungen Familien auf Unterstützung angewiesen sind. Ohne diese unbezahlte Arbeitszeit würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Grosseltern, vor allem Grossmütter, leisten im Jahr Familienarbeit in der Höhe von 8 Milliarden Franken. Und nun setzen wir diese unbezahlte Arbeit in Relation zu den 800 Millionen Franken netto an AHV-Leistungen, die durch Erhöhung des Frauenrentenalters gespart werden sollen.
SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard. (Foto: Keystone)
LOHNBEITRÄGE ODER OHRFEIGE. Und noch an eine Zahl mit einer 8 drin sollten ganz besonders jene gutverdienenden und gutausgebildeten Menschen denken, die auf den Balkonen standen und klatschten für jene Leute, die während der Coronapandemie an der Front standen. Diese Zahl lautet 0,08 Prozent. 0,08 Prozent für Arbeitnehmende und 0,08 Prozent für die Arbeitgeber. Um diese müssten die Lohnbeiträge erhöht werden, um die in der AHV 21 geplanten Rentenkürzungen für Frauen und ihre Ehepartner auszugleichen. Denn nichts anderes als eine Rentenkürzung ist die Erhöhung des Rentenalters für Frauen.
Wir haben also eine ganz konkrete Wahl am 25. September. Es ist die Wahl zwischen einer Ohrfeige für hart arbeitende Frauen oder einem Lohnbeitrag von jeweils 0,08 Prozent.
DAS GEHT NICHT! Angesichts dieser Alternative stimmen alle, denen ein Minimum an sozialer Gerechtigkeit wichtig ist, Nein zur Erhöhung des Frauenrentenalters und Nein zur Erhöhung der Mehrwertsteuer. Denn die AHV 21 reduziert ohne Not die AHV-Renten der Pflegefachfrauen, der Verkäuferinnen und ihrer Männer. Frauen und Männer, die seit langem hart arbeiten, werden von privilegierten Kreisen noch mehr benachteiligt. Das geht nicht.
Wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sind überzeugt, dass die Solidarität die Ressource bleibt, mit der wir alle Herausforderungen der Zukunft bewältigen können, und lehnen darum mit Kraft und Überzeugung die AHV-21-Vorlage ab!»
Cédric Wermuth (36), Co-Präsident SP: «Respektlos gegenüber unseren Müttern»
«1981 gelang es endlich, die Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung zu verankern. Es ist klar, dass wir darauf hinarbeiten sollen, dass diese Generation – meine – dereinst im gleichen Alter pensioniert werden sollte. Und zwar weil ich sicher bin, dass wir in den nächsten Jahren endlich mit der Gleichstellung vorankommen. Es ist etwas in Bewegung gekommen, wir sind langsam, aber immerhin auf dem richtigen Weg. Und es ist lange nicht gesagt, ob bis dahin das Rentenalter der Männer nach unten und nicht jenes der Frauen nach oben angepasst wird.
Cédric Wermuth (36), Co-Präsident SP:. (Foto: Keystone)
ELITÄRE ÜBERHEBLICHKEIT. Aber wir sind heute noch nicht dort. Gerade bei den Löhnen oder der Aufteilung von Haus- und Betreuungsarbeit sind die Unterschiede immer noch enorm. Es fehlt in der Familienpolitik an allen Ecken und Enden, gerade auch an bezahlbaren Kita-Plätzen. Und noch viel weiter weg von der Gleichstellung ist die Generation unserer Mütter. Sie waren es, die wie viele Frauen vor ihnen die Doppel- und Dreifachbelastung von Familie und Beruf gestemmt haben. Genau diese Frauen, die Mütter meiner Generation, sollen jetzt mit einem höheren Rentenalter bestraft werden? Das ist respektlos. Die Vorlage des Parlaments zeugt von elitärer Überheblichkeit. Damen und Herren aus gutem Hause sind kaum betroffen, wie die Statistiken klar zeigen: Wer es sich leisten kann, geht heute schon früher in Pension. Weiterarbeiten müssen hingegen Frauen und Männer, die über keine gute Privatversicherung verfügen. Sie werden durch diese Reform bestraft, nicht nur die Frauen, auch die Ehemänner, weil die Ehepaarrente genauso abgebaut wird. Genau die Menschen also, die ein Leben lang hart gearbeitet haben und sowieso schon mit bescheidenen Renten auskommen müssen.
NEIN! NEIN! NEIN! Besonders stossend: Am gleichen Tag soll das Stimmvolk ausser dem AHV-Abbau auch ein Millionengeschenk an Konzerne und Oligarchen beschliessen. Genau jene Kreise also, die in den letzten Jahren saftige Gewinne eingestrichen haben. Aus leidvoller Erfahrung wissen wir alle nur zu gut, was das heisst: Bezahlen darf die Ausfälle dann das Volk. Für die, welche ohnehin schon genug haben, ist also Geld vorhanden, für unsere AHV aber nicht? Die Antwort am 25. September kann nur lauten: Nein! Nein! Nein!»
Sirius Kousadianois (23), Werkstudent Wirtschaftsrecht:«Die AHV liesse sich gerechter finanzieren»
«Ehrlich gesagt: Mich mit 23 Jahren mit der AHV und meinem Pensionierungsalter auseinanderzusetzen ist herausfordernd. Denn von meiner eigenen Pensionierung bin ich noch zahlreiche AHV-Reformen oder -Reförmlis entfernt. Doch die Tage, wo Junge wegschauen und sich mit ihrer Zukunft nicht auseinandersetzen müssen, sind vorbei. Uns stehen Krisen bevor, die Junge bewegen. So sehr bewegen, dass sich viele wünschen, bereits mit 16 politisch mitentscheiden zu dürfen. Wir sind nicht die faule Generation, wie es viele meinen. Wir sind eine Generation, die noch von Gerechtigkeit träumt und dafür kämpfen will.
Sirius Kousadianois (23), Werkstudent Wirtschaftsrecht. (Foto: dak)
ZUERST LOHNGLEICHHEIT. Die Gleichberechtigung ist in meiner Generation das A und O. Doch wie soll die geplante Reform für Gleichberechtigung sorgen, wenn meine Mitstudentinnen heute noch schlicht andere Perspektiven haben als ich – und das nur, weil ich ein Mann bin? Bevor am Pensionierungsalter der Frauen gerüttelt wird, muss am Fundament gearbeitet werden: bezahlbare Kita-Plätze, mehr Elternzeit für Mütter und Väter, gleiche Ausbildungs- und Karrierechancen für alle und endlich die Lohngleichheit.
Uns steht allen eine Zeit bevor, in der die Kosten für unseren Lebensunterhalt aufgrund der Teuerung massiv steigen. Das schmerzt nicht nur mich als Studenten, sondern noch viel mehr die hart Arbeitenden in Tieflohnbranchen. Eine Mehrwertsteuererhöhung kommt zum schlechtesten Zeitpunkt für alle, die gerade jetzt aufs Portemonnaie schauen müssen.
FAIRE LÖSUNGEN. Ich bin überzeugt, es gibt zum heutigen Zeitpunkt gerechtere Wege, die AHV zu finanzieren, als die Renten unserer Mütter zu kürzen, die ihr Leben lang gearbeitet und gleichzeitig gratis für uns gesorgt haben. Lohnungleichheit muss bekämpft werden. Frauen sollen stärker in den Arbeitsmarkt integriert werden. Teilzeitarbeit soll über das Pensionierungsalter hinaus gefördert werden. An dieser Stelle vertraue ich auf unsere jungen Politikerinnen und Politiker, faire und nachhaltige Lösungen zu finden. Ich vertraue auf bessere Lösungen als die vorliegende AHV-Reform. Deshalb stimme ich zwei Mal Nein.»