Papierlose sind «systemrelevant», aber:

Ein winziger Fehler, und sie fliegen

Patricia D'Incau

Sie arbeiten rund um die Uhr und leben in ständiger Angst: Sans-papiers sind Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung. Weil sie keine Chance haben, eine zu bekommen. Das nützt miesen Chefinnen und fiesen Ausbeutern.

UNSICHTBAR, ABER «SYSTEMRELEVANT»: Viele Sans-papiers-Frauen arbeiten in Schweizer Haushalten – oft zu Hungerlöhnen und ohne Sozialversicherungen. (Foto: Keystone)

Sie arbeiten in der Reinigung, auf dem Bau oder als Hausangestellte. Sie kommen aus Lateinamerika, Asien oder Osteuropa. Sie sitzen neben uns im Zug oder im Bus – und leben doch ein Leben im Versteckten. Weil sie eigentlich gar nicht hier sein dürften.
Sie, das sind die Sans-papiers. Menschen, die sich ohne gültige Papiere in der Schweiz aufhalten. Das strenge Ausländergesetz zwingt sie dazu. Denn: Während Bürgerinnen und Bürger aus EU-/EFTA-Staaten einen erleichterten Zugang zum hiesigen Arbeitsmarkt haben, ist die Hürde für alle anderen hoch. Aus sogenannten Drittstaaten haben praktisch nur Manager und Spezialistinnen die Chance auf eine Arbeits- und Aufenthalts­bewilligung. Für alle anderen ist das schier unmöglich. Selbst dann, wenn sie schon seit Jahren in der Schweiz ­leben, arbeiten und ihre Kinder hier aufwachsen.

 «Ich servierte zwölf Stunden am Tag für 600 Franken im Monat.»

BÜEZEN ZUM HUNGERLOHN

Das betrifft zwischen 100’000 und 200’000 Menschen in der Schweiz. Genaue Zahlen gibt es nicht: Sans-papiers meiden jeden Kontakt mit Behörden. Und wissen: Jeder Fehltritt könnte ihnen zum Verhängnis werden.

Reinigungsfachfrau Fany (63) hat das erlebt. Ein einziges Mal ist die Bolivianerin unvorsichtig, braucht das Halbtaxabo einer Freundin, um etwas Geld zu sparen. Prompt wird sie im Zug kontrolliert. Eine Schweizerin wäre vermutlich mit einer Busse davongekommen. Doch Fany wird ver­haftet – und ausgeschafft. Das Horror­szenario aller Sans-papiers, die ihre Länder verlassen, um Arbeitslosigkeit und Armut zu entkommen.

Fany ist eine von 13 Sans-papiers, die Journalistin Tanja Polli in ihrem Buch «Die Unsichtbaren» porträtiert. Auch Köchin Leilani (47) erzählt dort ihre Geschichte (siehe Text rechts). Die Berichte zeigen: Das Leben von Sans-papiers ist eines in ständiger Angst. Und voller Hürden.

Wer keinen gültigen Ausweis hat, kann kein Bankkonto eröffnen, keinen Handy-Vertrag abschliessen und keine Wohnung mieten. Sans-papiers sind deshalb immer auf andere angewiesen. Das macht sie zu einem leichten Ziel für Betrügereien. Bei der Polizei melden können sie sich schliesslich nicht. Also zahlen sie oft überzogene Mieten oder sind zu Schwarzarbeit gezwungen. Weil der Arbeitgeber sich weigert, in die Sozialversicherungen einzubezahlen. Eine 2015 veröffentlichte Studie des Staatssekretariats für Migration zeigt: Nur jeder siebte Sans-papiers ist sozialversichert, obwohl praktisch alle erwerbstätig sind. Das heisst: Sie bekommen keine Leistungen, wenn sie arbeitslos werden. Und im Alter stehen sie ohne Rente da. Obwohl sie ihr ganzes Leben chrampfen. Praktisch jeden Tag, ohne Ferien und für ­einen Hungerlohn. Wie die Kosovarin Ariana (33), die im Gastgewerbe arbeitete: «Ich servierte zwölf Stunden am Tag für 600 Franken im Monat.»

Gute Integration kann sogar zum Nachteil werden.

POLITISCHES HICKHACK

Trotz allem: Sans-papiers sein heisst nicht ohne Rechte sein. Darauf pochen Beratungsstellen und Gewerkschaften immer wieder. So haben auch Sans-­papiers Anrecht auf Ferien, Ruhezeiten und Mindestlöhne (siehe Artikel unten).

Um legal in der Schweiz sein zu können, bleibt aber praktisch nur ein einziger Weg: ein Härtefallgesuch. Wann für die Behörden ein Härtefall auch tatsächlich einer ist, ist meist kaum definiert. Gute Integration alleine reicht oft nicht. Im Gegenteil: Sie kann sogar als Nachteil ausgelegt werden.

Das weiss Bea Schwager, Leiterin der Zürcher Sans-papiers-Anlaufstelle (SPAZ). Sie begleitete eine Frau, die seit 22 Jahren in der Schweiz lebte, perfekt Deutsch sprach und vorbildlich inte­griert war. Der Kanton lehnte ihr Gesuch trotzdem ab. Begründung: Die gute Integration zeige, dass die Frau anpassungsfähig sei und sich daher im Herkunftsland problemlos reintegrieren werde. Sie wurde ausgeschafft.

Anders machte es 2017 der Kanton Genf. Er erteilte 3882 Sans-papiers eine Aufenthaltsbewilligung (work berichtete). Unter strengen, aber klaren Bedingungen. «Operation Papyrus» hiess die Aktion und war ein grosses Glück. Auch für die Kantonskassen. «Papyrus» war nämlich auch eine Offensive gegen Schwarzarbeit. Arbeit­geber, die Sans-papiers nicht sozialversichert hatten, mussten nachzahlen. Die Einnahmen der Sozialversicherungen stiegen um 5,7 Millionen Franken. Plus: Aus Sans-papiers sind jetzt Steuerzahlerinnen geworden.

NEUE HOFFNUNG

Bis heute ist «Papyrus» schweizweit einzigartig. Mittlerweile gibt es aber auch in Zürich einen Lichtblick. Dort wird über eine «City Card» diskutiert. Einen Stadtausweis, der von den städtischen Behörden als offizielles Dokument anerkannt werden soll. Damit könnten sich Sans-papiers endlich ausweisen, ohne sich outen zu müssen. Und vieles mehr. Wie: eingeschriebene Briefe bei der Post abholen, ihre Kinder selbständig in der Kita anmelden oder heiraten.

Im September hat das Stadtparlament für das Projekt 3,2 Millionen Franken gesprochen. Weil die Bürgerlichen und Rechten das Referendum ergriffen, kommt die «City Card» jetzt an die Urne. Voraussichtlich am 15. Mai. Dann wissen die Sans-papiers in Zürich, ob sie endlich aufatmen dürfen. Wenigstens ein bisschen.


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1 Kommentar

  1. Beat Hubschmid

    Auch „Papyrus“ arbeitet(e) mit Doppelstandarts: Z.B. ein älteres Bauernehepaar (ohne DZ) wurde an den Pranger gestellt, fertig gemacht und ausgenommen, als es schwarz, ähm, illegal Erntearbeiter beschäftigte. Andererseits wurde ein reiches Anwaltspaar reingewaschen (anonymisiert), das jahrelang eine unterbezahlte Haushaltshilfe beschäftigte (Ablasshandel)!

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