Cryptoleaks: Der grösste Spionageskandal seit dem Zweiten Weltkrieg

Und die Schweiz war mittendrin

Clemens Studer

Jetzt ist definitiv belegt, was viele schon immer geahnt haben: die Zuger Crypto AG war eine Spionage-Bude. Ihre Geräte waren für den US-Geheimdienst CIA und den westdeutschen Bundes­nachrichtendienst BND offen wie eine nicht ­abgeschlossene Baubaracke. Wenn wundert’s: die ­Crypto gehörte ihnen ja. Und die Schweiz wusste Bescheid.

WENIG LICHT IM DUNKELN: Firmensitz der Crypto AG in Steinhausen ZG. (Foto: Keystone)

Die Enthüllungen der SRF-«Rundschau», des ZDF und der »Washington Post» haben es in sich. Zwar wurde schon länger vermutet, dass die Zuger Crypto AG mit Geheimdiensten zusammenarbeite. Doch das Ausmass ist viel grösser. Denn seit 1970 gehörte die 1952 gegründet Firma der CIA und dem BND sogar. Über eine Briefkastenfirma in Liechtenstein.

Die von der Crypto AG an über 100 Länder verkauften Chiffriermaschinen hatten eine ­«Hintertür». Diese bestand aus absichtlich in den Verschlüsselungs-Algorithmus eingebauten Schwachstellen. Das machte die vermeintlich sicher verschlüsselten Texte für CIA und BND offen lesbar. Und die Schweizer Behörden und auch Bundesräte waren spätestens ab 1977 über die Vorgänge bei der Crypto informiert. Wer alles wie detailliert informiert war, ist noch offen.

All das steht in den sogenannten Cryptoleaks-Papieren. Mehrere Tausend Dokumente, die dem deutschen Recherchejournalisten Peter F. Müller zugespielt wurden (siehe Chronik auf Seite 6). Er hat sie für das ZDF ausgewertet und sie mit der SRF-Rundschau und der Washington Post geteilt.

Auch der Vatikan hatte viel Gottvertrauen in die Crypto AG.

RUBIKON ÜBERSCHRITTEN

Der Deckname der Crypto AG war «Minerva». Die ganze Operation hiess «Rubikon». Der Name ist nicht ohne: Rubikon ist ein Fluss in der italienischen Provinz Emilia-Romagna, der es schon früh in die Geschichtsbücher geschafft hat. Julius Caesar überquerte ihn am 10. Januar 49 vor unserer Zeitrechnung mit bewaffneten Truppen. Das war eine Kriegserklärung an den römischen Senat. Caesar war sich der unumkehrbaren Konsequenzen bewusst, er wollte an die Macht – und soll sein berühmtes «alea iacta est» gesprochen haben («Der Würfel ist geworfen»). Metaphorisch steht «den Rubikon überschreiten» für «sich unwiderruflich auf eine riskante Handlung einlassen».

Riskant mochte die Aktion Rubikon sein, aber aus Sicht von CIA und BND auch sehr ergiebig. Sie lasen während Jahrzehnten mit, was Regierungen vertraulich wähnten. Und sie griffen ein (oder auch nicht): zum Beispiel in Argentinien, wo heute noch ein Museum vom blutigen Militärputsch zeugt (siehe Box unten).

Zum Beispiel Chile: 1970 wählte das chilenische Volk den Sozialisten Salvador Allende zum Präsidenten. Er verstaatlichte die Bodenschätze, enteignete ausländische Grosskonzerne und Banken und transferierte 20’000 Quadratkilometer Agrarland von den Grossgrundbesitzern zu Kleinbauern und Kollektiven. Das alles passte den USA nicht. Die CIA lancierte einen Putsch durch Teile der Armee, und der faschistische General Augusto Pinochet kam an die Macht. Die demokratisch gewählte Regierung Allende hatte auf Crypto-Geräte gesetzt. Die Putschisten kannten alle Pläne.

Zum Beispiel Panama: Auch der Vatikan hatte viel Gottvertrauen in die Crypto AG. Das wurde 1989 General Manuel Noriega, dem Machthaber von Panama, zum Verhängnis. Der war während vieler Jahre ein treuer US-Vasall und stand auf der CIA-Gehaltsliste. Doch Noriega geschäftete immer intensiver mit dem Medellín-Kokain-Kartell. Und vor allem wurde er zunehmend widerspenstig, weil der Panamakanal vertrags­gemäss 1999 an Panama zurückfallen sollte. Noriega wollte den durch japanische und chinesische Konzerne ausbauen lassen und nicht vom US-Konzern Bechtel. Die US-Armee fiel in Panama ein. Vor den Invasoren flüchtete Noriega in die Gesandtschaft des Vatikans. Was die CIA sofort erfuhr – die Kommunikation nach Rom lief über Crypto-Maschinen.

Zum Beispiel Iran: Bereits Schah Reza Pahlavi war ein treuer Crypto-Kunde. Die Mullahs blieben nach der Revolution den Zugern treu. Und die USA lasen mit. 1980 griff der damalige irakische Staatschef Saddam Hussein Iran an. Im ­Auftrag und unterstützt vom Westen. Mit Geld, Waffen – und Informationen, die von den Iranern mit Crypto-Geräten verschlüsselt waren. Der Erste Golfkrieg brach aus und dauerte von 1980 bis 1988. Irgendwann aber wurden die Mullahs misstrauisch. Und dieses Misstrauen wäre beinahe das Ende der «Operation Rubikon» geworden.

Am 18. März 1992 verhafteten die Iraner Hans Bühler – Starverkäufer der Crypto AG – und liessen ihn erst am 4. Januar 1993 wieder frei. Jetzt begannen auch in der Schweiz Recherchen über die Hintergründe dieser Verhaftung. Hans Bühler fühlte sich von der Crypto AG – zu Recht – schlecht behandelt. Bis zu seiner Verhaftung in Teheran wusste er nichts von den Manipulationen. Er stellte eigene Nachforschungen an. Dann ging er an die Medien (siehe Seite 6).

Die «Rundschau» berichtete schon 1994 ausführlich über die Crypto. Die Vorwürfe waren die, die jetzt definitiv belegt sind. In der Sendung trat der damalige Crypto-Chef Michael Grupe auf und dementierte alle Vorwürfe. Die CIA war zufrieden: «G.’s Auftritt hat das Programm vermutlich gerettet», steht in einem der Cryptoleaks-Dokumente. Auch die Schweizer Bundespolizei startete jetzt eine Voruntersuchung, die aber «keine konkreten Verdachtsmomente für ein strafbares Verhalten ergaben». So sagte es jedenfalls der damalige Bupo-Chef Urs von Daeniken in der «Rundschau». Geleitet hat das damalige Verfahren Jürg Bühler. Er ist heute Vizedirektor beim Nachrichtendienst des Bundes (NDB). In den CIA-Unterlagen steht zur damaligen Untersuchung: «Sie schienen nicht sehr gut hinzuschauen.» Die Bupo sei eingeweiht gewesen und habe auch den Militärischen Nachrichtendienst (MND) informiert: «Hohe Beamte der Organisation [MND, die Red.] hatten generell Kenntnis von der Rolle Deutschlands und der USA im Zusammenhang mit der Crypto AG und trugen dazu bei, diese Beziehung zu schützen.»

STARKES STÜCK: Die Crypto AG verkaufte ihre Chiffriermaschinen an über 100 Länder. Doch die Maschinen hatten eine «Hintertür», so dass CIA und BND nach ihrem Gusto mitlesen konnten. (Foto: Rama)

Schweizer Behörden und Bundesräte waren spätestens ab 1977 informiert.

NOCHMALS NICHTS FINDEN?

Die Cryptoleaks-Enthüllungen schreckten auch Politikerinnen und Politiker auf. Aus unterschiedlichen Gründen. FDP und CVP, weil zahlreiche ihrer früheren Spitzenpolitiker und Beamten in die Crypto-Affäre verstrickt sind (siehe Artikel links). Grüne und Linke, weil sie jetzt endlich Licht ins Dunkel bringen wollen. Wer hat ab wann was gewusst? Wie verstrickt sind die Schweizer Geheimdienste? Oder waren sie nur unfähig? Sie wollen eine parlamentarische Untersuchungskommission (PUK).

Doch die rechten Parteien bremsen. Sie setzen auf den vom Bundesrat eingesetzten Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer. Der ist zwar ein fähiger und integrer Mann. Aber die Befugnisse, mit denen er ausgestattet ist, sind in Anbetracht der Dimensionen des Falls völlig ungenügend. Oder sie setzen auf die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) des Parlaments. Diese ist für die Aufsicht über die Geheimdienste zuständig. Hat seit ihrem Bestehen in Sachen Crypto offenbar aber nie etwas gefunden. Ausserdem sind ihre Kapazitäten ebenfalls ungenügend. Das sagt auch der grüne Alt-Nationalrat Ueli Leuenberger, der von 2013 bis 2015 Mitglied der GPDel war.

Ebenfalls nicht gerade vertrauensbildend: Die GPDel war seit dem November vom Bundesrat über die neusten Entwicklungen informiert. Und hat nichts gemacht. Dazu kommt: Möglicherweise ist die Geheimdienstaufsicht Teil des Problems. Noch am 11. Februar 2020 sagte GPDel-Präsident Alfred Heer (er ist auch als neuer SVP-Präsident im Gespräch), man brauche noch mehr Informationen, ob sich eine Untersuchung überhaupt lohne. Unterdessen hat er seine Meinung geändert. Gut möglich, dass an seinem Sinneswandel die PUK-Gegner von FDP und CVP mitgewerkelt haben.

Die Abwiegler sind schon kräftig am Werk.

DIE ANGST VOR DER PUK

Eine PUK ist das stärkste Mittel zur Aufsicht über die eidgenössische Verwaltung. Sie kann eingesetzt werden, wenn «Vorkommnisse von grosser Tragweite der Klärung bedürfen». Und sie hat starke Mittel. Unter anderem kann sie die Protokolle der Bundesratssitzungen auswerten. Sie kann als geheim klassifizierte Dokumente einsehen. Sie kann Einvernahmen vornehmen. Und sie kann zusätzlich einen Untersuchungsleiter einsetzen.

Eine PUK ist eine scharfe Waffe. Und die Bürgerlichen fürchten sie nach den Erfahrungen mit der PUK-Untersuchung zum Fall Kopp vor 30 Jahren. Damals ging es um Geldwäscherei und Drogenhandel. Aufgeflogen ist dabei der Fichenskandal. Aufgeflogen sind auch die Geheimarmee P 26 und der Geheim-Nachrichtendienst P 27. Umstritten ist allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, wieweit die der demokratischen Kontrolle entzo­genen Schweizer P-Gruppierungen mit den Nato-weiten Geheimarmeen kooperierten.

Die Erkenntnisse der PUK-Untersuchungen zündeten damals in Dunkelkammern, die von den Rechten lieber im Dunkeln gelassen worden wären. So wie sie jetzt die Crypto-Enhüllungen möglichst schnell zu den Akten legen möchten. Die Abwiegler sind schon kräftig am Werk. Von halblinks (Ex-Botschafter und Kurzzeit-Nationalrat Tim Guldimann) bis ganz rechts (Ex-Bundesrat Christoph Blocher, der in seiner Amtszeit selbst auf Wunsch der CIA Gerichtsakten vernichten liess).

Militärdiktatur in Argentinien: Mitwisser sind Mittäter

Als der Crypto-Skandal aufflog, war Ex-Unia-Co-Präsident und work-Autor Andreas Rieger gerade in Argentinien. Und besuchte dort das Museum, das dem blutigen Putsch der argentinischen Militärjunta von 1976 gewidmet ist. Von weit weg und doch mittendrin schreibt er uns:

«Es war jeweils Anfang Woche. Die Häscher gingen auf die Menschenjagd. Verdeckt in Zivil oder als Sanitäter fahren sie in Buenos Aires bei ‹Verdächtigen› zu Hause vor und schleppen sie ab ins Schulungszentrum der argentinischen Marine. Ohne Haftbefehl, ohne Haftrichter, alles möglichst, ohne Spuren zu hinterlassen. Ohne Verzug geht im Keller des Offiziers­casinos ein Folterteam ans Werk, um ­Namen von weiteren ‹Verdächtigen› für die Fortsetzung der Jagd in der nächsten Woche zu erhalten. Im Büro zwei Stöcke höher fällen dann die oberen Verantwort­lichen schnelle, kurze Entscheide: «T» heisst «verlegt» (translado), «L» heisst «freilgelassen» (liberado). In der zweiten ­Hälfte der Woche wird umgesetzt, was ­zynisch «Verlegung» heisst: Die Gefangenen werden eingeschläfert, dutzendweise in ein Flugzeug verfrachtet und in der Nacht über dem Meer abgeworfen, in den sicheren Tod.

MASSENMORD. Durch dieses Folterzen­trum der Marine in Buenos Aires wurden zwischen 1976 und 1981 fünftausend Menschen gejagt: Linke, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, Intellektuelle und andere, die der Militärdiktatur verdächtig schienen. Fünfhundert weitere solcher Zentren gab es in ganz Argenti­nien. Nur kleiner. 30 000 Menschen starben insgesamt in diesem teuflisch geplanten Massenmord. Spurlos. Stellten Eltern Nachforschungen bei den Behörden an, antworteten ihnen diese: «Ihr Sohn ist vermutlich einfach abgehauen.»

Es dauerte Jahre, bis die Wahrheit öffentlich wurde. Heute zeugt ein Museum ­direkt am Ort des Grauens, in der Marinekaserne in Buenos Aires, von diesem Terror. Laut ZDF wusste der deutsche Nachrichtendienst BND dank den gezinkten Schweizer Crypto-Verschlüsselungsmaschinen auch über die wichtigen Operationen der argentinischen Militärs ­bestens Bescheid – und liess den Massenmord laufen. Mitwisser sind Mittäter. Und da wagen es Kommentatoren und Medienleute in der Schweiz nun zu sagen, dank der Crypto-Operation sei die Welt besser geworden!» Andreas Rieger


Weitere Artikel zum Thema:

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.