Editorial

Die Vergangenheit lebt immer noch

Marie-Josée Kuhn

Marie-Josée Kuhn, Chefredaktorin work

«Ausgerechnet ich habe für den CIA gearbeitet!» Das sagt Franziska Flury * (61), ehemalige Programmie­rerin bei der Dechiffriermaschinen­fabrik Crypto AG in Steinhausen ZG. «Es war ein super Job, es herrschte ein offener Umgang», erinnert sich die Gewerkschafterin, die damals auch als Kandidatin der Revolutionären Marxistischen Liga (RML) für den Zuger Regierungsrat kandidierte. Flury kann die Crypto-Affäre, die nun dank einem CIA-Papier definitiv aufge­flogen ist, immer noch nicht ganz fassen. Und sie ist nicht allein: work hat mit einem Dutzend Gewerkschaftsmitgliedern und ehemaligen Crypto-Mit­arbeitenden geredet – und alle sind sie schockiert bis verärgert. Was? Ihre ehemalige Arbeitgeberin eine Spionage-Bude! Wie? Seit 1970 war sie im Besitz der CIA und des westdeutschen Geheimdienstes BND! Und, hä? Beide Geheimdienste hatten die Crypto AG benutzt, um über 100 Länder auszuspionieren. Und plötzlich werden aus Ahnungen von früher Gewissheiten von heute (siehe «Jetzt reden die ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter»).

Cryptoleaks: ein wahnwitziges
Stück Schweizer Geschichte!

VILLIGER & CO. Spätestens seit 1977 wussten auch die Schweizer Behörden über die Vorgänge in der Crypto AG Bescheid. Die Dechiffriermaschinen hatten ein geheimes Hintertürchen, damit CIA & BND mithören konnten. Crypto-Geräte waren 1970 auch beim blutigen Militärputsch in Chile im Einsatz. Als die CIA die demokratisch gewählte Regierung von Sozialist Salvador Allende wegputschen liess und dem faschistischen General Augusto Pinochet auf den Thron half.

Die Schweizer Behörden machten zunächst mal nichts. Und schauten später lieber weg. Zu tief verstrickt in die Crypto-Affäre waren eine ganze Reihe von Schweizer Politikern und Beamten. Und sind es immer noch: Ex-Militärchef Kaspar Villiger, Ex-Nachrichtendienstchef Peter Regli und Noch-Nachrichtendienst-Vize Jürg Bühler. Genau, jener Bühler, der in den 1990er Jahren bereits eine Unter­suchung gegen die Crypto führte – und nichts fand. Alle sind sie noch da! Und waschen ihre Hände in Unschuld. Und ihre Parteikumpanen und Partei­medien helfen ihnen da­bei. Indem sie den grössten Spionageskandal seit dem Zweiten Weltkrieg als Vergangenheit verharmlosen.

STAAT IM STAATE. 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist der Kalte Krieg immer noch da. Und der Staat im Staate ebenfalls, dieser militärisch-industrielle Komplex, die engen Verflechtungen von Militärapparat, Rüstungsindustrie, staatlicher Verwaltung und Politik. Ja, es ist schon ein wahnwitziges Stück Schweizer Geschichte, das work-Autor Clemens Studer minutiös zusammengestellt hat. Absolut erhellend und ein Leseabenteuer.

1 Kommentar

  1. Peter Bitterli

    Was haben Sie denn gedacht, wozu Geheimdienste so da sind? Um heinzelmännchenartig im Geheimen gewerkschaftlich gesamtarbeitsvertragliche Dienstleistungen zu erbringen? Wie reimen Sie sich denn die Bedeutung der Bezeichnung „Geheimdienste“ zusammen, wenn Magistraten und weitere hochrangige Eingeweihte nicht einmal in der Lage sein sollen, ihr Wissen geheim zu halten? Und, hä? Wieso soll der Rechtsstaat nicht wissen, was Sache ist, wenn bekennende marxistisch-leninistische Revolutionärinnen für einen Regierungsratssitz kandidieren.

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