Geschichtsprofessorin Caroline Arni über Frauenbewegungen und Frauenstreiks

«In der Geschichte der Gleichheit ist nie etwas für immer errungen»

Patricia D'Incau und Marie-Josée Kuhn

Wann gehen Frauen aus Protest auf die Strasse? Und wann haben sie die Nase sogar derart voll, dass sie streiken wollen? Ein Gespräch über Wut, Solidarität und Macht mit der Historikerin Caroline Arni.

CAROLINE ARNI: «Bei meiner Forschung zum Frauenstreik von 1991 fallen mir Aspekte auf, an die wir uns kaum mehr erinnern. Etwa, dass die Krankenkassenprämien für die Frauen höher waren als für die Männer, wegen des Eventualfalls der Schwangerschaft.» (Foto: Stefan Bohrer)

work: Caroline Arni, wir erleben gerade frauenbewegte Zeiten. Auch in der Schweiz. Für den 14. Juni rufen hier die Frauen zum nationalen Frauenstreik auf. Die wievielte Frauenbewegung haben wir jetzt eigentlich?
Caroline Arni: Es gibt die Vorstellung, dass die Frauenbewegung in Wellen kommt. Die erste Welle wird um 1900 angesiedelt. Die zweite Welle in den 1970er Jahren, als sogenannte «neue» Frauenbewegung. Die dritte Welle soll in den 1990er Jahren erfolgt sein. Und die vierte in den 2010er Jahren. Wir sehen: Es geht immer schneller mit den Wellen. Doch ich halte dieses Wellen-Narrativ nicht für sehr hilfreich.

Warum nicht?
Es vereindeutigt die einzelnen feministischen Momente zu sehr. Klar, es gibt Konjunkturen. Da passiert auf der Ebene der Mobilisierung und der Organisation viel, und das Ganze wird ausserdem von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen. Um 1900 zum Beispiel wurden viele Frauenorganisationen gegründet, auch übergreifende Verbände. Oder auch in den 1970er Jahren: Frauen sahen ihre Anliegen in der 68er Bewegung nicht aufgehoben, also organisierten sie sich autonom.

Was ist denn mit den Themen, die den einzelnen Frauenbewegungen gemeinhin zugeordnet werden?
Ja, das wird häufig gemacht: Als Kennzeichen der ersten Welle um 1900 gilt der Kampf für gleiche Rechte, besonders für die politischen Rechte, auch für Bildung. Der zweiten Welle in den 1970er Jahren gehört dann die «Politisierung des Privaten», die Sexualität, der Körper und so weiter. Aber da wird es mit den Wellen schon problematisch. Denn: Um scheinbar Privates ging es auch um 1900. Natürlich sind die Dinge nicht immer auf die gleiche Weise Thema. Aber genau das sehen wir nicht, wenn wir Wellen nach Themen unterscheiden. Ausserdem verdecken wir die historische Vielfalt. Um 1900 gab es nicht nur eine Stimmrechtsbewegung, sondern auch eine Arbeiterinnenbewegung. Und Ende der 1960er Jahre kämpften die einen für Selbstverwirklichung, andere aber um Existenzrechte, etwa in den USA die armen, meist schwarzen Sozialhilfeempfängerinnen, die sich als Bewegung organisierten.

Das zweite Problem am Wellen-Narrativ ist, dass der Eindruck erweckt wird, es sei zwischen den Wellen nichts. Ebbe, sozusagen. Das ist falsch. Schon vor 1900 gab es feministische Kämpfe. Oder nehmen wir die 1980er Jahre, sie wären nach der Wellen-Erzählung so eine Ebbe gewesen, doch damals wurden zum Beispiel viele Frauenhäuser für Opfer häuslicher Gewalt gegründet. Man hat Strukturen aufgebaut, Räume, Institutionen.

Wenn es keine Wellen gibt, gibt es denn Auslöser? War nicht die Wahl von Sexist und Rassist Donald Trump der Auslöser für den heutigen Frauenpower?
Ich würde eher sagen, dass wir in einem Moment sind, in dem verschiedene Themen gleichzeitig auf den Tisch kommen. Schon lange vor dem Schock der Trump-Wahl etwa haben Feministinnen auf die Problematik der Sorgearbeit hingewiesen. Soziologinnen haben die «Care-Chain» analysiert, die Sorge-Kette: Eine Schweizerin oder ein Schweizer beschäftigt etwa eine Frau aus Osteuropa, um zu den pflegebedürftigen Eltern zu schauen. Und diese Frau aus Osteuropa hat vielleicht ein Kind, das sie dann selbst nicht mehr betreuen kann. Also muss sie diese Arbeit einer Frau aus einer noch ärmeren Region übertragen. Wenn nun zu solchen Analysen ein Ereignis «Trump» kommt, das den Alltagssexismus aufs Tapet bringt, ausserdem krasse Vorfälle von Gewalt an Frauen überall auf der Welt, weiter Statistiken zur Lohnungleichheit – dann stellt sich die Frage des Zusammenhangs: Könnte es sein, dass in all dem ein Muster der Abwertung von Frauen und dem, was Frauen tun, zum Ausdruck kommt? So eine Konstellation macht eine feministische Konjunktur aus. Dass diese Frage verschiedene Themen und Situationen miteinander verknüpft.

A propos «Trump» finde ich die Fixierung auf die USA problematisch. Es gibt auch Frauenbewegungen in anderen Teilen der Welt, die zum Teil unabhängig davon funktionieren, was dort oder in Europa gerade passiert. In Lateinamerika beispielsweise gibt es frauenpolitische Projekte, die hier wenig wahrgenommen werden, die aber wichtige Impulse geben könnten.

Caroline Arni: Frauengeschichte

Caroline Arni ist Professorin am Departement Geschichte an der Universität Basel. Sie wurde 1970 in Solothurn geboren. An der ­Universität Bern ­studierte sie Schweizer Geschichte, ­Neuere Geschichte und Soziologie.

FORSCHERIN. Sie machte mehrere Forschungsauf­enthalte im Ausland (Paris, Essen, Princeton). Caroline Arni befasst sich unter anderem mit der Geschichte des Feminismus. Am 25. April wird sie am work-Streik-­Podium «Lohngleichheit. Punkt. Schluss! Lohngleichheit.Punkt. Schluss?» in Bern teilnehmen. (siehe unten)

Und in jeder Konjunktur gibt es auch unterschiedliche Frauenfraktionen: die Arbeiterinnen, die Studentinnen die bürgerlichen Frauen und viele mehr, die sich aber auf einen gemeinsamen Nenner einigen?
Ja, 1968/1969 zum Beispiel war in der Schweiz der gemeinsame Nenner das Frauenstimmrecht. 1969, als es zum Marsch auf Bern kam, da hatten wir eine heterogene Konstellation von Frauen: Die progressiven Studentinnen, denen der Marsch auf Bern zu wenig radikal war. Die gemässigten Frauenrechtlerinnen, denen der Marsch auf Bern zu radikal war. Aber da war auch ein Brennpunkt – das gemeinsame Anliegen Frauenstimmrecht. 1991, beim ersten Frauenstreik, war es die Forderung nach der Umsetzung des Gleichstellungsartikels, der seit zehn Jahren in der Verfassung stand. Wie auch die Mutterschaftsversicherung längst versprochen und nicht eingelöst war. Heute ist vielleicht Arbeit so ein Brennpunkt. Wir sehen: Okay, ja, die Frauen sind rechtlich bessergestellt. Frauen sind auch zu einem grösseren Ausmass erwerbstätig als vorher. Aber sie haben jedes Jahr 108 Milliarden Franken weniger Einkommen als die Männer. Warum? Lohnungleichheit und Lohnunterschiede nach Branchen sind das eine, das andere ist die unbezahlte Arbeit. Dieses Thema betrifft auf unterschiedliche Weise viele Frauen.

Das klingt alles ziemlich abstrakt. Braucht es denn nicht auch Emotionen, Zorn und Vorbilder, damit sich Frauen bewegen?
Sicher, zum Beispiel die Nichtwahl von Chris­tiane Brunner etwa hat 1993 grosse Emotionen und eine Mobilisierung ausgelöst. Das ist auch, was viele Akteurinnen aus dieser Zeit sagen: die Empörung, die Wut, die Enttäuschung, die Erfahrung der Ohnmacht, ja, das war bei der Nichtwahl von Brunner zentral. Die Herabsetzung, die an Brunner öffentlich vollzogen wurde, war etwas, das viele Frauen selbst erlebt hatten. Sie merkten: Das passiert nicht nur mir.
Das ist ein Moment der Politisierung, in dem klar wird: Nicht ich bin es, die etwas falsch macht. Sondern es sind die Verhältnisse, die falsch sind. Der Moment, in dem Frauen sich in Zusammenhang setzen zu anderen Frauen. Das ist übrigens auch der Sinn der Kategorie «Frau» als politische Kategorie. Es gibt zwar ganz verschiedene Weisen, als Frau in die Gesellschaft hin­eingestellt zu sein, aber: Sie haben etwas miteinander zu tun. Und das wird sichtbar, wenn sich Frauen aufeinander beziehen.

So geschehen zum Beispiel in der #MeToo-Kampagne?
Ja. #MeToo bringt das schon nur begrifflich auf den Punkt. Unterschiedlichste Frauen sagen: «Ich auch. Ich habe auch Übergriffe erfahren. Und ich sage es jetzt öffentlich.»

«Der Frauen­streik von 1991 war extrem berührend und bewegend.»

Sie recherchieren derzeit für ein Seminar, was genau am Frauenstreik von 1991 in Basel passiert ist. Was war passiert?
Zum einen fallen mir die Aspekte auf, an die wir uns kaum mehr erinnern, wie zum Beispiel, dass die Krankenkassenprämien für die Frauen höher waren als für die Männer, wegen des Eventualfalls der Schwangerschaft. Zum andern: Wie dezentral der Frauenstreik von 1991 war. Wie breit und vielfältig. Da waren die Kioskfrauen und die Krankenpflegerinnen, die Lehrerinnen und Studentinnen. Sie haben sich Aktionen ausgedacht, die mit ihrer spezifischen Situation zu tun hatten und die für sie umsetzbar waren. Dadurch konnten so viele Frauen am Frauenstreik teilnehmen.

Ein Beispiel: Die Kindergärtnerinnen in einem Kindergarten in Basel überlegten sich, dass sie nicht einfach streiken und den Kindergarten schliessen könnten. Sie sagten sich: Wenn wir zumachen, dann tun wir anderen Frauen – sprich: den Müttern dieser Kinder – keinen Gefallen. Dennoch wollten sie ein Zeichen setzen. Sie malten dann mit den Kindern Mütterbilder. Und luden die Mütter dazu ein, diese Portraits anschauen zu kommen. Anschliessend gingen sie alle gemeinsam an eine Kundgebung. Das finde ich eindrücklich. Die Breite dieses Frauenstreiks, die Vielfalt von Frauen, die mitgemacht haben, das war schon grossartig.

Waren Sie damals auch dabei?
Ja, ich war im zweiten Semester an der Uni in Bern. Ich war schon feministisch politisiert, aber der Frauenstreik war das erste grosse politische Ereignis, das ich miterlebte. Es war extrem berührend und bewegend zu sehen: Wir sind viele. Wir sind unverzichtbar für die Gesellschaft. Und: Wir haben auch eine gewisse Macht.

Was bewegte Sie 1991 besonders?
Wir Studentinnen wollten mehr Frauen als Professorinnen. Und wir wehrten uns gegen sexuelle Belästigung. Das war ein grosses Thema. Wir ­arbeiteten dann auch die Reglemente aus, wie man an der Universität mit sexueller Belästigung umgehen soll. Die gab es vorher nicht. Und wir protestierten gegen die Männlichkeit des Wissenschaftskanons, also dass fast nur Werke von Männern gelehrt wurden. Ich habe dazu später auch wissenschaftlich gearbeitet: Wie es dazu gekommen ist, dass beispielsweise Frauen, die im 19. Jahrhundert Gesellschaftstheorien entwickelt haben, nicht in der Geschichte der Soziologie vorkommen.

Heute sehen wir vielerorts wieder Rück­schritte: In mehreren Ländern, in denen neu die autoritäre, harte Rechte regiert, soll etwa das Abtreibungsgesetz wieder verschärft werden. Erleben wir einen Backlash?
Als Historikerin denke ich nicht gerne in den Kategorien von Fortschritt und Rückschritt. Ich denke, dass sich die Verhältnisse vielmehr neu zusammensetzen. Ein Beispiel: In den letzten Jahrzehnten hat die Erwerbstätigkeit von Frauen zugenommen. Man kann dies als Fortschritt bezeichnen, weil ihnen historisch Erwerbsarbeit ­erschwert worden ist. Wenn wir aber anschauen, was in derselben Zeit mit der unbezahlten Arbeit passiert ist, sehen wir, dass viel davon unter Frauen neu verteilt worden ist. Frauen wie ich haben den Gleichstellungstraum von früher realisiert – aber vor allem andere Frauen übernehmen nun die Sorgearbeit, als Putzfrauen, als Grossmütter, in Kitas und Horten. Das Problem ist nicht, dass Frauen dies tun. Sondern, dass diese Arbeit nicht als bedeutsam angesehen ist, dass sie nicht die Wertschätzung erfährt, die ihr zukommt. Ist diese Konstellation nun ein Fortschritt oder ein Rückschritt für «die Frauen»? Kommt ganz drauf an, für wen. Deshalb eignet sich das Denken in Fort- und Rückschritten schlecht, um historische Prozesse zu analysieren. Klar, im politischen Diskurs sind sie zentral, denn man hat Forderungen – und will, dass diese erfüllt werden. Daran lassen sich dann die Fortschritte messen. Aber als Historikerin spreche ich lieber von veränderten Konstellationen. Geschichte ist nicht linear.

«Mit den neuen Formen von Gleichheit ent­stehen auch neue Formen von Ungleichheit.»

Sondern?
Es gibt in der Geschichte eine Kontinuität von Gleichheit und Ungleichheit, die sich immer neu anordnen.

Ok, sprechen wir also anstatt von Fortschritten von Errungenschaften für die Frauen. Das Recht auf Abtreibung ist so eine Errungenschaft. Und jetzt wird dieses Recht wieder angegriffen. Da muss man doch von einem klaren Rückschritt sprechen, oder nicht?
Klar gibt es feministische Errungenschaften. Und klar, die Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper ist eine solche. Unbestritten! Und auch klar, mir begegnen in letzter Zeit wieder vermehrt Tagungen, an denen nur Männer referieren. Und dies auch in meinem Fach, in dem es sehr viele Frauen gibt. Dann denke auch ich, das ist ein Zurückfallen. Offenbar kann man das heute wieder tun. Aber dieses Denken reicht nicht aus, um Geschichte zu verstehen.

Könnte es auch einfach sein, dass Sie eine Kulturpessimistin sind? Und deshalb nicht von kontinuierlichen Fortschritten in der Geschichte der Emanzipation sprechen mögen?
Nein. Als politischer Mensch bin ich sogar eher optimistisch veranlagt. Als Historikerin aber in­teressiert mich, wie Geschichte sich vollzieht. Die Geschichte der Gleichheit ist kein kumulativer Prozess, bei dem es auf einem grundsätzlich nach vorne gerichteten Strahl vorwärts- oder rückwärtsgeht.

Mit neuen Formen von Gleichheit stellen sich auch neue Formen von Ungleichheit ein. Es ist wichtig, das zu sehen, weil wir dann auch erkennen, dass immer emanzipatorische Kämpfe nötig gewesen sind und dass sie weiterhin nötig sind. Und dass solche Kämpfe zu unterschiedlichen Zeitpunkten an unterschiedlichen Punkten ansetzen müssen. Gleichheit ist kein Selbstläufer. In der Geschichte der Gleichheit ist nie etwas für immer errungen. Und schliesslich gibt es in der Geschichte Dialektik, Ambivalenzen, Widersprüche. Beispielsweise das Paradox, dass mit formaler Gleichstellung Herabsetzung im Alltagshandeln einhergehen kann. Weil Ungleichheit dann auf eine andere Weise hergestellt wird.


Podium work und Denknetz «Frauenstreik. Punkt. Schluss!»

Wie kam es zum legendären Frauenstreik von 1991, und was hat er bewirkt?

Podium mit Sandra Künzi (Slampoetin), Caroline Arni (Geschichtsprofessorin Uni Basel), ­Vania Alleva (Präsidentin Unia), Anne Fritz (SGB-Kampagnenverantwortliche Frauen*streik), Franziska Stier (Mitinitiantin «Feministischer Streik Basel») und Dore Heim (Frauenstreik-Mitorganisatorin 1991).

Moderation: Marie-Josée Kuhn, Chefredaktorin work. Organisiert von work und dem linken Denknetz.

Donnerstag, 25. April, 18 Uhr, Progr, Waisenhausplatz 30, Bern.

Der Frauenstreik am 14. Juni

Die Frauen haben genug: Am 14. Juni 2019 kommt der zweite Frauenstreik. Es geht um Lohngleichheit und unbezahlte Hausarbeit. Um Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und um das Ende von Sexismus und Gewalt. Alle Hintergründe zu den Streikforderungen, den geplanten Aktionen und den Vorbereitungen in den verschiedenen Regionen gibt es auf: www.workzeitung.ch/frauenstreik

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