Paul Rechsteiner: Das Ende einer Ära

Der rote Paul geht von Bord

Ralph Hug

Bei der Verabschiedung von Paul Rechsteiner wurde im ­Berner Kursaal so manches Auge feucht.

MAMA. Paul Rechsteiner mit seiner Mutter Anni (93). (Foto: Neil Labrador)

Die Trommelgruppe Borumbaia dröhnt. Tief hallen die Schläge im Kursaal nach. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen von der Person, die den Gewerkschaftsbund seit 20 Jahren durch alle Stürme führte. Das geht ans Herz. Der Applaus will nicht enden. Kaum je war die Gewerkschaftsbewegung emotionell so stark mit einem Chef verbunden wie mit Paul Rechsteiner. Er ist ein Mensch, der wenig Gefühle zeigt. Dem Pathos fremd ist. Der ein eher hölzerner Redner ist. Aber der weiss, was einfache Menschen bewegt, weil er selber einer von ihnen ist. Mutter Anni (93) war auch da, in Begleitung der Familie und direkt aus der Reha im Toggenburg. Sie freute sich über ihren berühmten Sohn.

«Die Leute verstehen nicht immer, was er sagt, aber sie glauben ihm.»

GLÜCKSFALL. Kein anderer hätte Rechsteiners grosse Leistungen für die Arbeitnehmenden besser würdigen können als sein Weg- und Kampfgefährte Vasco Pedrina, der ehemalige Unia-Co-Präsident. Ein Glücksfall sei er für den SGB gewesen, ein Vorbild für viele und vermutlich der belesenste Gewerkschaftspräsident je. Pedrina hebt Rechsteiners Gradlinigkeit und Glaubwürdigkeit hervor. Diese habe er sich als Anwalt der einfachen Leute und als Kämpfer in vielen kollektiven Aktionen erworben. Dann zitiert Pedrina einen alten GBI-Gewerkschafter: «Die Leute verstehen nicht immer, was er sagt, aber sie glauben ihm.» Und Pedrina erwähnt auch seine Tochter, die ihn jeweils ans Telefon rief: «Papi, es ist der Mann, der schnell redet!»

Zwanzig Jahre: Der Gewerkschaftsbund verändert sich in dieser Periode total. Er wird offener, vielfältiger, mobiler. Er verschafft sich Re­spekt, kann seinen Gegnern rote Linien ziehen. Er erkämpft die Wende vom unmenschlichen Kontingentsystem zur sozial flankierten Personenfreizügigkeit, führt mit Erfolg Mindestlohnkampagnen und stärkt das Netz der Gesamtarbeitsverträge, ganz entgegen dem europäischen Trend. Alles unter Rechsteiner. Einiges bleibt laut Pedrina auch unerreicht. Mit den christlichen Verbänden ist die Gewerkschaftsbewegung weiterhin gespalten, der Mitgliederbestand stagniert, bei der Lohngleichheit braucht es weitere Antritte, ebenso bei der AHV. Doch dafür ist mit der geplanten Volksinitiative für eine 13. Rente gesorgt. Dank Rechsteiner. Wem sonst?

TIEF BEWEGT. Es wird ihm fast zu viel ob all dem Lob. Rechsteiner steht auf dem Podium, nimmt’s betont gelassen und ist doch im Innern tief bewegt. Er wird geküsst, umarmt, versinkt fast im Applaus, nimmt Hans Ernis Originalgrafik zur AHV-Abstimmung von 1947 als Geschenk entgegen, und er hört den einmaligen Berner Autor Pedro Lenz sagen: «Jetzt geit en Ära z Änd, jetz waggle Muure u Wänd, jetz geit dr Presidänt.» Der Lotse verlässt das Boot und bleibt doch an Bord, als Ständerat und Mann mit Einfluss unter der Bundeshauskuppel. Sein Vermächtnis ist nachhaltig. In den eigenen Worten tönt es so trocken wie immer: «Was gehört zu den Vor­aussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft? Es braucht dafür den Geist der Offenheit und auch des Pluralismus. Und die Fähigkeit zur Bündelung und Konzentration der Kräfte auf die für die Arbeiterinnen und Arbeiter entscheidenden Fragen.» Und dann kommt noch ein Satz. Einer fürs Geschichtsbuch: «Es gibt keine Alternative zur Solidarität.»

Das grosse work-Interview mit Paul Rechsteiner in work Nr. 18 oder unter: rebrand.ly/interview-paul


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