Einstürze und Aufstände: Frankreich brennt

«Das ist kein Unglück, das ist Politik»

Oliver Fahrni

Das haben die Regierenden nicht kommen sehen: Seit mitten in ­Marseille acht Menschen unter den Haustrümmern sterben mussten, macht sich grosser Zorn breit in der Hafenstadt. Die Reportage.

RIESEN-DESASTER: Sieht aus wie nach einem Erdbeben, ist aber menschengemacht. Die Stadtregierung in Marseille lässt Häuser im Zentrum zerfallen, um die Bewohner zu vertreiben – und nimmt dafür Tote in Kauf. (Foto: Getty)

An jenem Morgen weckten ihn seltsame Geräusche. Abdel­ghani Mouzid sah offene Schränke und frische Risse in der Wand. Die Zimmertür klemmte. Er nahm sein Handy und filmte. Dann eilte er aus seiner Wohnung in der Rue d’Aubagne 65 in Marseille, um beim Verwalter Alarm zu schlagen. Im Korridor lagen Gipsbrocken. Als er gerade unten in die Rue de Rome einbog, sackten die Häuser 65 und 63 krachend in sich zusammen. Die oberen Etagen der Nummer 67 fielen etwas später.

Ouloume, Mouzids komorische Nachbarin, hatte weniger Glück. Am Morgen brachte sie ihren kleinen Sohn zur Schule. Abends wartete El Amine vergeblich auf seine Mutter. Acht Menschen starben beim Häusereinsturz. Acht Tode, die man leicht hätte verhindern können. Der Zustand der Häuser war bekannt. Benoît Gilles, der Chefredaktor des lokalen Internetmediums «Marsactu», hatte die Gefahr im Februar 2016 ausführlich beschrieben. Haus Nummer 65 wurde kürzlich notgeräumt, aber auf Betreiben der Wohnungsbesitzer am 18. Oktober wieder für sicher erklärt.

GAUDIN HINTER GITTER!

In Trümmern liegt nun auch die Herrschaft von Bürgermeister Jean-Claude Gaudin, 79. Seit bald einem Vierteljahrhundert regiert der «faule König» (ein Lokalblatt) Marseille. Am Morgen des 5. November konnte er noch hoffen, das Desaster würde als schlimmer Unfall schnell wieder von den Titelseiten verschwinden. Er sei «écroulé», «bestürzt», liess er twittern, doch das Verb bedeutet eben auch eingestürzt. Schlechte Wortwahl, aber typisch für diesen Mann, der seine Stadt liebt und dies gerne mit provenzalischer Schnauze kundtut. Die vielen Armen in seiner Stadt liebt er weniger, wie sogar manche Stadtparlamentarier von Gaudins rechter Mehrheit sagen.

Etwas zerbrochen. Marseille ist nicht mehr dieselbe Stadt.

Als ich kurz vor Mittag einen ersten Augenschein in der Rue d’Aubagne nehme, steht bereits «Gaudin Mörder!» und «Gaudin hinter Gitter!» an den Wänden. Vor den Absperrungen der Polizei kümmern sich zornige Bewohnerinnen und Bewohner um die Angehörigen der Vermissten und um die über 100 Evakuierten der Nebenhäuser. Sie haben oft nicht einmal ihre Kleider mitnehmen können. Eine Mutter rennt immer wieder gegen die Gitter an, den Namen ihrer Tochter schreiend. Coiffeur Pierre, der seinen Salon räumen muss, sagt: «Das ist kein Unglück, das ist das Resultat von Gaudins Politik. Er lässt das Stadtzentrum zerfallen, weil er die Leute mit kleinen Einkommen rausekeln und hier teure Wohnungen bauen will.» Pierre werde ich am Protestmarsch wieder­sehen, wenn 10’000 Menschen vor das Stadthaus ziehen.

Lange haben die Menschen der zweitgrössten Stadt Frankreichs die üblen Verhältnisse, die 40 400 verrotteten und krankmachenden Wohnungen mit ihren 100’000 Bewohnern schulterzuckend, aber mit viel Energie und Improvisation weggesteckt. Auch die Schulen, in denen es durch die einstürzenden Decken regnet, den maroden öffentlichen Verkehr und einiges mehr. Nun aber ist etwas zerbrochen. Marseille ist nicht mehr dieselbe Stadt wie vor dem 5. November. Das liegt auch an der Rue d’Aubagne. Sie ist das Herz des Noailles-Quartiers und keine Strasse wie andere.

GROSSE TRAUER: Die einst lebensfrohe Stadt steht seit dem 5. November still. (Foto: Getty)

EINE STRASSE WIE EINE REISE

Steil und schräg ansteigend zieht sie vom Hafenquartier hoch auf den Cours Julien, wo die Künstler wohnen. Afrika, Orient und Asien zugleich, aber ohne Exotik. Ein Konzentrat des wirklichen Marseille. Die jeweils letzte Immigrationswelle lässt sich gerne in Noailles nieder, seit der alte Hafen herausgeputzt, das Gaunerquartier Panier für reiche Ausländer gesäubert und die schöne Rue de la République kaputtsaniert ist. Noailles, das sind 60 Nationen, Handwerker, Schneiderinnen, Coiffeursalons (5 Euro der Schnitt), ungezählte Läden und Beizen, chinesische und afrikanische Grossmärkte, Thea­ter. Azizas Café an der Kreuzung, auf der Zigarettenschmuggler locken («boro, boro»). «Die Rue d’Aubagne runterzugehen ist eine Reise», notierte der französische Krimiautor Jean-Claude Izzo in «Total Cheops». Sänger Gari von der bekannten Rap-Combo Massilia Sound System sagt: «Noailles ist die Wiege Marseilles, dieser lebensfrohen und plebeiischen Stadt, die jetzt an Immobilienspekulanten und Kreuzfahrttouristen verschleudert wird.»

Marseille hat die ärmsten Quartiere des Landes, der dritte Bezirk um die frühere Tabakfabrik Seita gilt EU-Statistikern sogar als das ärmste Quartier von ganz Europa. Aber anders als etwa Paris beginnt dieses arme Marseille bereits im Stadtzentrum und setzt sich in die Nordquartiere fort. Bürgermeister Gaudin und seine reichen Freunde wollen sich dieses ­Zentrum jetzt vom Volk zurückholen, mit einem millionenschweren Projekt. Mittendrin wird ein altes Viersternehotel teuer aufgefrischt. In die Sanierung der 40’000 abbruchfälligen Wohnungen hat Gaudins Verwaltung über die letzten zehn Jahre pro Jahr hingegen nur 1,5 Millionen Euro gesteckt. Also nichts. Und es soll noch weniger werden. Die Regierung von Präsident Emmanuel Macron hat Marseille die Mittel für den sozialen Wohnungsbau rabiat gekappt. Xavier Cachard, Finanzchef der Region, strich darauf das Budget zusammen. Interessant: Cachard ist Besitzer einer der Wohnungen in der eingestürzten Bruchbude an der Rue d’Aubagne Nummer 65. Er vermietete sie teuer.

GROSSE VERUNSICHERUNG: Auch die Schulhäuser sind in einem desolaten Zustand. (Foto: Keystone)

MELDE DEINE BRUCHBUDE!

Noch am Abend des Einsturzes bildet sich das «Kollektiv 5. November», unterstützt von diversen grossen Bürgergruppierungen und von den Gewerkschaften CGT und Sud-Solidaires. Die Solidarität hat sich sofort organisiert. Nur Stunden nach dem Desaster bieten etwa die Leute von Emmaus-Gründer Abbé ­Pierre Obdachlosenhilfe an. Menschen schaffen Kleider, Lebensmittel und Schulmaterial ins Quartier. Eine Koranschule stellt Räume zur Verfügung.

Kaouther Ben Mohamed gehört zu den treibenden Köpfen im Kollektiv. 41, fester Händedruck, klarer Kopf und klare Ansagen in singendem Marseiller Slang. Sie hat als Lokalabgeordnete kandidiert, auf der Liste von Pape Diouf, dem früheren Präsidenten des Fussballclubs Olympique Marseille. ­Kaouther arbeitet in diversen Projekten. Sie sagt: «Wer hilft, heilt auch seine eigenen Wunden.» Vor eineinhalb Jahren ist ihr Lebenspartner in der Siedlung Air-Bel an der Legionärskrankheit gestorben, das Wasser der 6900 Bewohnerinnen und Bewohner der Cité ist mit Legionellen-Bakterien verseucht. Seither wogt ein übler Streit um die immer wieder ­aufgeschobene Sanierung der Leitungen. Eine Tante von ­Kaouther gehört nun zu den Evakuierten der Rue d’Aubagne, aus einem Haus, in dem sie 44 Jahre lang gewohnt hat.

Etwas zerbrochen.Marseille ist nicht mehr dieselbe Stadt.

Die Helferinnen und Helfer haben alle Hände voll zu tun. Seit sie den Hashtag «Melde deine Bruchbude» aufgeschaltet haben, gab es 12’000 Meldungen. Eilendst musste die Feuerwehr mehr als 1300 Menschen aus ihren Wohnungen holen. Und es nimmt kein Ende. Die Stadt ist überfordert. Vor den Büros am Hafen, wo sich die Evakuierten melden können, steht viel Polizei. Helferin Kaouther sagt: «Es muss ein Recht auf Rückkehr der Evakuierten in ihr Quartier geben. Notfalls in die Wohnungen, welche die Besitzer aus steuerlichen Gründen leer stehen lassen.» Wir trinken Kaffee in der Rue d’Aubagne. Die Frau am Nebentisch spricht Kaouther an. Die Feuerwehr hat sie und ihren Sohn mit dem Krankorb aus einem Haus geholt. Man hat sie weit draussen im 15. Bezirk in einer Absteige untergebracht. Eine Stunde Weg ins Zentrum. Sie weint. Der Sohn sollte dieses Jahr die Matura machen, im anspruchsvollen Lycée Thiers, aber jetzt hat er drei Stunden Schulweg. Sie haben nur einzelne Bus­tickets erhalten, keine Monatskarte. Seine Klassenlehrerin ist seit dem Häusersturz krank geschrieben.

Wenn es brennt, stellt sich Kaouther vorne hin wie bei der grossen Protestdemo, als sie die Polizisten per Lautsprecher auffordert, die Menschen zu schützen. Doch die hatten einen anderen Einsatzbefehl, sie sollten die Bewegung zerschlagen. Manche Demonstrierenden konnten sich nur durch einen Sprung auf Schiffe retten. Vor der improvisierten Gedenkstätte in der Rue d’Aubagne erwischte die prügelnde ­Antikriminalitätsbrigade auch drei Schülerinnen, die gerade Kerzen aufstellten. Morgens um 4 Uhr, bevor die Stadtreinigung kam, holte ein bekannter Lokalreporter seine Kamera und fotografierte die Blutspuren in der Stadt. Um sechs Uhr war der Hafen wieder proper für die Kreuzfahrttouristen.

GROSSER ZORN: Zehntausende gingen gegen die Stadtregierung auf die Strasse. (Foto: Keystone)

DIE ZWEI MARSEILLE

Jetzt ist «Agora», eine offene Stadtversammlung. Der Theatersaal ist brechend voll. Neben mir macht eine Soziologin Notizen. Sie sagt: «Das haben die Regierenden nicht kommen sehen.» Aber eigentlich, sagt sie, gehe es schon lange nicht mehr um die Stadtregierung. Sondern um die «zwei Marseille. Hier die Immobilienhändler, Banken und Mietspekulanten. Dort die Bevölkerung, die ihren Platz verteidigt.» Und wie geht das aus, frage ich. Sie sagt nur: «Pouhh!»


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