Der Marx-Kenner Urs Marti rät Jung und Alt:

«Lest Marx, und zwar im Original!»

Ralph Hug

Er kennt das Werk von Karl Marx von A bis Z: Urs Marti, ehemaliger Professor für Politische Philosophie an der Universität Zürich. work hat ihn gefragt, was heute von Marx bleibe.

TRIER SIEHT ROT: Installation des Künstlers Ottmar Hörl mit 500 Karl-Marx-Figuren in seiner Geburtsstadt. (Foto: dpa)

Was war Karl Marx überhaupt? Ein Philosoph, ein Ökonom? Oder ein Revolutionär und Kommunist? Oder alles zusammen? Diese Frage zu beantworten fällt schwer, denn Marx ist äusserst vielfältig. Für Urs Marti war Marx ein Jurist (er hatte unter anderem Recht studiert), ein Philosoph und auch ein Journalist. Marx sei aufgrund seiner jüdischen Herkunft früh für jede Form von Diskriminierung sensibilisiert gewesen.

Als wichtigste Leistung von Marx erachtet Marti die Erforschung und Erklärung dessen, wie eine Gesellschaft funktioniert. Wie sie sich (weiter)entwickelt. Mit der zentralen Einsicht: «Es sind die Produktions- und Eigentumsverhältnisse, die die Ordnung einer Gesellschaft prägen.» Also etwa die gesellschaftlichen Beziehungen, die Menschen bei der Produktion, bei der Verteilung und dem Verbrauch von Produkten miteinander eingehen. Diese sind eng verknüpft mit den Eigentumsverhältnissen: Wem gehören die Werkzeuge, die Fabriken usw.?

Was ist noch aktuell von Marx? Schliesslich ist der Kapitalismus von heute nicht mehr derselbe wie jener des 19. Jahrhunderts. Urs Marti hält fest: «Im Kapitalismus wird das von den Menschen selbsterarbeitete Eigentum verdrängt vom kapitalistischen Privateigentum, das heisst von der Ausbeutung fremder Arbeit.» Der Fabrikbesitzer lebt vom Mehrwert, den die Mitarbeitenden schaffen. Genau das habe Marx aufgezeigt: Die kapitalistische Wirtschaftsweise verdanke ihren Triumph einer ungeheuren Enteignung. Und das sei immer noch der Fall, so Urs Marti: «Nach wie vor handelt es sich beim Kapitalismus um ein System der Enteignung, das heisst der privaten Aneignung von Gütern, die allen Menschen zustehen.»

Kapitalismus ist nach wie vor ein System der Enteignung.

Was ist mit Marxens Vorstellungen wie der «Diktatur des Proletariats»? Dazu sagt Marti, dass «Diktatur» im 19. Jahrhundert die gleiche Bedeutung gehabt habe wie in der römischen Republik. Sie war ein verfassungsmässiges Amt für Zeiten des Ausnahmezustands. Wenn Marx also von «Diktatur» sprach, meinte er die Einführung des demokratischen Mehrheitsprinzips. Also die Beteiligung der arbeitenden Bevölkerung an der politischen Macht. Das forderten damals die Fortschrittlichen in ganz Europa. Was aber die Wirtschaftsordnung betreffe, so bleibe bei Marx der Begriff des Kommunismus vage. Konkreter habe er vom Genossenschaftsprinzip gesprochen.

Marti meint, dass viele Vorstellungen von Marx falsch ausgelegt würden. Er plädiert deshalb dafür, Marx neu zu lesen. Und zwar im Original. In seinem soeben erschienenen Buch «Die Freiheit des Karl Marx» stellt Marti überraschend die liberale Seite von Marx ins Licht. Geprägt von der französischen Aufklärung, habe Marx gegen die politische und religiöse Bevormundung gekämpft. Liberale Grundsätze habe er keineswegs geringgeschätzt. Marti: «Als Philosoph hat er die Freiheit des Individuums höher eingestuft als das Ideal der Gleichheit.» War Marx gar ein Liberaler? So weit will Marti nicht gehen. Marx habe den Liberalismus auch stark kritisiert.

Können die Gewerkschaften von Marx etwas lernen? Ja, findet Marti: «Sie sind Organisationen des Widerstands – oder sollten es sein.» Die Spielräume von Kapitalbesitzern seien unendlich viel grösser als jene der Lohnabhängigen. «Diese Ungleichheit können Gewerkschaften ein Stück weit reduzieren, im Kampf um ­angemessene Löhne, Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, aber auch um politische Mitbestimmung.» Marti findet bei Marx viel Bedeutsames. Dies, obwohl Marx bei vielen Linken heute nicht mehr präsent sei. Marti hat kein Problem damit, sich als Marxist zu bezeichnen: «Klar hat sich vieles geändert, doch die wissenschaftliche Analyse der Gesellschaft ist immer noch wichtig.»

MARX-EXPERTE

Marxist Urs Marti (65) lehrte bis zu seiner Pensionierung 2017 an der Universität Zürich Politische Philosophie. Er hat zahl­reiche Artikel zu den Themen Ethik, Demokratie und globale Gerechtigkeit verfasst. Auch im linken «Denknetz» ist er aktiv. Soeben erschienen ist sein neues Buch «Die Freiheit des Karl Marx. Ein Aufklärer im bürgerlichen Zeitalter» (Rowohlt-Verlag, ca. 30 Franken). Am 1. Mai führt Marti in Zürich in sein Buch ein (18 Uhr, Walcheturm, Kanonengasse 20).


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