Die Schweiz streikt!

«Wir erleben eine Renaissance der Arbeitskämpfe»

Ralph Hug

Seit zwanzig Jahren nimmt die Zahl der Streiks in der Schweiz wieder zu. Das zeigt der ehemalige Unia-Co-Präsident Andreas Rieger zusammen mit Vania Alleva in einem neuen Buch.

UNERSCHROCKENE BÜEZER. Tausende Arbeiter gingen im Baustreik 2007 in Genf für einen neuen Vertrag auf die Strasse. (Foto: Keystone)

work: In der Berner Strafanstalt ­Thorberg streikten die Insassen für  Sexzimmer und besseres Essen. ­Tauchen sie in der Streikstatistik auch auf?
Andreas Rieger: Das muss der Bund für seine Statistik entscheiden. Für uns in der Unia ist ein Streik eine kollektive Arbeitsniederlegung im Arbeitsverhältnis.

In Genf führten die Angestellten von ABB Sécheron tagelang eine sogenannte kollektive Konsultation durch, weil ihre Jobs nach Polen verlagert werden sollen. War das für Sie ein Streik?
Jeder Arbeitskampf ist besonders. Und Leute, die sich für ihren Job wehren, sind sehr kreativ. Bei der ABB liessen die Betroffenen ihre Arbeit nicht einfach liegen und verliessen die Fabrik. Sondern sie arbeiteten weiter – an Vorschlägen zur Rettung ihrer Stellen.

ANDREAS RIEGER. Untersucht die Streiks des 21. Jahrhunderts. (Foto: Jasmin Frei)

Sie waren sechs Jahre lang Co-Chef der Unia. Welcher Streik ist Ihnen besonder in Erinnerung geblieben?
Unter anderen der Baustreik im Herbst 2007. Bereits am Morgen früh waren schweizweit Tausende Bauarbeiter auf den Strassen, das war sehr eindrücklich. Ich vergesse nie, wie 4000 bis 5000 Arbeiter in Genf die Montblanc-Brücke besetzten. Ein gewaltiges Erlebnis! So ein Streik schweisst die Leute zusammen.

Nächstes Jahr jährt sich der Landesstreik von 1918 in der Schweiz zum hundertsten Mal. Mit ihm verlangte die Arbeiterbewegung etwa den Achtstundentag, die AHV und das Frauenstimmrecht. War der Landesstreik «die Mutter aller Streiks»?
Tönt etwas militärisch, ähnlich wie «die Mutter aller Schlachten». Aber klar, der Generalstreik war der Höhepunkt einer längeren branchenübergreifenden Streikwelle seit etwa 1905. Es gab damals mehrere lokale Generalstreiks, sie kulminierten im Grossereignis vom November 1918. Auch nach dem Landesstreik gab es übrigens branchenübergreifende Arbeitskämpfe wie etwa den Generalstreik von 1919 in Basel. Erst in den 1920er Jahren ebbten sie ab.

In Ihrem neuen Buch «Streiks im 21. Jahrhundert» (siehe Box) kommen Sie zum Schluss, dass wir seit etwa 2000 eine Streik-Renaissance erleben. Wie kommen Sie darauf?
Ich habe mich auf die offizielle Streikstatistik des Bundes und auf die Daten der Unia gestützt. Letztere geben die Realität differenziert wieder. Denn sie erfassen auch kurze Warnstreiks und Aktionen ausserhalb der Arbeitszeiten, die offiziell nicht registriert werden. Nach der Unia-Statistik gab es seit 2000 allein in den Unia-Branchen über 300 Arbeitskämpfe, davon 112 Streiks. Wir können von einer neuen Streikwelle sprechen. Solche Wellen gab es nach 1944 und in den kriselnden 1970er Jahren, als sich die Arbeitskämpfe gegen Entlassungen häuften. In der Hochkonjunktur der 1980er Jahre gab es kaum einen Streik. Das änderte sich Mitte der 1990er Jahre mit dem Neoliberalismus abrupt. Die Mehrheit der ­Arbeitgeber wollte nichts mehr von So­zialpartnerschaft wissen, nicht mehr verhandeln, sondern einseitig diktieren und Jobs abbauen. Dies erzeugte Widerstand.

«Angestellte streiken heute ebenso wie Arbeiter.»

Auf dem Bau und in der Industrie streiken die Lohnabhängigen seit je. Neuerdings streiken aber auch die Beschäftigten im Detailhandel und im Pflegesektor oder die Gärtner, sogar die Theaterleute. Ist die Schweiz streikfreudiger geworden?
Zwei Drittel der Arbeitnehmenden sind heute im Dienstleistungssektor beschäftigt. Hier sind die Arbeitsbedingungen nicht besser als in der Industrie, im  Gegenteil. Also ist es nur logisch, dass es auch hier vermehrt zu Arbeitskämpfen kommt. Selbst wenn es in diesen Bereichen keine Streiktradition gibt. Das  beweist übrigens, dass die Meinung falsch ist, Angestellte würden im Gegensatz zu Arbeitern nicht streiken. Und immer mehr sind an Streiks auch Frauen beteiligt.

Ihre Streikanalyse zeigt vorwiegend Defensivkämpfe: Widerstwand gegen Jobabbau, gegen Entlassungen und Stellenverlagerungen ins Ausland. Streikt heute eigentlich niemand mehr für mehr Lohn oder kürzere Arbeitszeiten?
Doch, doch. Die Lohnfrage bleibt aktuell, ebenso die frühzeitige Pensionierung. Sie sind immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen im Baugewerbe. Ferner führen miese Arbeitsbedingungen häufig zu Arbeitsniederlegungen. Auch mobbende Chefs haben schon Streiks ausgelöst.

«Leute, die sich für ihren Job wehren, sind sehr kreativ.»

90 Prozent aller Streiks seien ganz oder teilweise erfolgreich, sagen Sie. Was bringen sie denn, all diese erfolgreichen Streiks?
Arbeitgeber erhöhen zum Beispiel die Löhne. Oder sie nehmen eine Lohnkürzung zurück. So geschehen nach einem Streik bei der Tessiner Kunststofffirma Exten 2015. Diese wollte wegen des überbewerteten Frankens die Löhne um 20 Prozent kürzen. Vielfach besteht der Erfolg auch darin, dass eine Firma schliesslich nur einen Teil des geplanten Stellenabbaus umsetzt. Oder ihren So­zialplan verbessert.

Und wie viele Niederlagen gibt es?
Komplette Niederlagen sind erfreulicherweise selten. Nur in zehn Prozent aller Streiks gehen die Streikenden ganz leer aus. Erfolge sind übrigens dann realistisch, wenn die Beschäftigten geschlossen auftreten und sich nicht spalten lassen. Neben den Kräfteverhältnissen im Betrieb ist auch die Unterstützung der Öffentlichkeit wichtig. Wenn diese gross ist, gerät die bestreikte Firma zusätzlich unter Druck.

Als einzelner geht nichts, aber gemeinsam wird vieles möglich: Wie lernt man Solidarität?
Sicher nicht in Vorlesungen, sondern aus eigener Erfahrung und den Erfahrungen anderer. Jeder Streik wird in der Region von anderen Belegschaften miterfahren. Ist er erfolgreich, kann er Nachahmende finden.

Wir befinden uns im digitalen ­Zeitalter der Plattformwirtschaft und der zunehmenden Projekt- und Tele­arbeit. Können moderne Arbeits­nomaden noch streiken?
Die Zahl der Arbeitnehmenden, die völlig vereinzelt und isoliert arbeiten, nimmt zwar zu. Doch glaube ich nicht, dass diese Vereinzelung die Zukunft der Arbeitswelt ist. Auch mit der Digitalisierung bleiben die Zusammenarbeit und die Vernetzung von Menschen unentbehrlich. Auf andere Weise können Sie komplexe Arbeitsabläufe gar nicht bewältigen. Wo die Zusammenarbeit notwendig ist, ist die kollektive Gegenwehr möglich.

Das Streik-Buch

«Streik im 21. Jahrhundert» heisst das neue Unia-Buch, herausgegeben von ­Vania Alleva und Andreas Rieger im Rotpunktverlag Zürich. Es beleuchtet 13 Streiks in den letzten zwei Jahrzehnten – von der Zentralwäscherei Basel über Zyliss bis zu Exten im Tessin. Zudem gibt es Analysen und Gespräche von Andreas Rieger, ­Vania Alleva, Heiner Dribbusch, Paul Rechsteiner, Catherine Laubscher und Alessandro Peliz­zari. Mit einer Chronologie der Streiks von 2000 bis 2016. CHF 25.–.

Streiks sind also nicht ewiggestrig?
Das hätten die Arbeitgeber gerne, das ist bekanntlich ja ihre Leier. Sie wird durchs Wiederholen aber nicht wahrer. Es gibt auch immer Patrons, die behaupten, Streiks seien verboten. Das hat noch nie gestimmt. In der neuen Bundesverfassung ist das Recht auf Streik sogar verankert. Was gewisse Arbeitgeber auch gerne herumbieten, ist ihre Drahtziehertheorie. Die Gewerkschaften würden die Leute aufhetzen, behaupten sie. Dabei kommt es zu Streiks, wenn die Situation am Arbeitsplatz unerträglich geworden ist und die Leute keinen Ausweg mehr sehen.


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