Anne-Sophie Zbinden

Editorial

Anne-Sophie Zbinden ist die Chefredaktorin von work.

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Der Soundtrack unserer Gesellschaft

«Es lebe hoch, es lebe hoch, der Zimmermannsgeselle». Dieses Lied war Ende des 18. Jahrhunderts ein Hit. Lehrer Joachim August Zarnack (1777–1827) schrieb es um zu einem Liebeskummerlied: «O Mägdelein, o Mägdelein, wie falsch ist dein Gemüte». Er stellt die untreue Geliebte in Kontrast zum Tannenbaum, der mit seinen immergrünen Nadeln als Symbol der Treue gilt.

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Mehr Meer ist nicht immer mehr

Knietief steht er im Wasser, in Anzug und Krawatte, und spricht zur 26. Weltklimakonferenz: Die Rede aus dem Pazifik von Simon Kofe, Aussenminister des Südseestaates Tuvalu, ging 2021 um die Welt. Seine Botschaft: Wir gehen unter, aber alle anderen auch.

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Wie wild wiederholen

«Und im übrigen bin ich der Meinung, Karthago müsse zerstört werden.» Dieser berühmte Satz wird Cato dem Älteren zugeschrieben, einem erzkonservativen Politiker im alten Rom.

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Noblesse oblige

Schweizer Reichenclans sind der Adel in ­unserem an Prinzessinnen und Prinzen sonst so armen Land. Mehr als ein Drittel der 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer sind Familien, schreibt das Wirtschafts­magazin «Bilanz». Sie besitzen zusammen 346 Milliarden Franken. Sie engagieren sich, meist diskret im Hintergrund, für junge Musiktalente, für sportliche Nachwuchshoffnungen oder gar für die hungerleidende Bevölkerung Afrikas – Noblesse oblige. TÜRME. So bescheiden sich viele dieser Familien gerne geben, so einflussreich sind sie. Manchmal dort, wo wir es am wenigsten erwarten. Zum Beispiel der Aponte-Clan. Über sein ­Privatleben ist wenig bekannt, geraunt wird über seine drei identischen Ferienhäuser im Luxus-Skiresort ­Megève. Die Familie besitzt die Reederei MSC, ist Weltspitze im Frachttransport (gerne auch mit Schrottkähnen) und auf Platz drei bei den Kreuzfahrtschiffen. Und hat kürzlich zusammen mit einem anderen schrecklich Reichen (Johann Rupert, Richemont) für 4,2 Milliarden Franken Mediclinic International gekauft, die Eigentümerin der Hirslanden-Gruppe. Unser Beinbruch, ihr Profit.

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Was einmal gepostet …

Es sind verstörende Bilder, die uns fast in Echtzeit nach dem grausamen Angriff der Hamas aus Israel und dem Gazastreifen erreichen. Sie zeugen von herzzerreissendem Leid. Gleichzeitig sind wilde Diskussionen dar­über entbrannt, welche Bilder echt sind, welche fake und ob künstliche Intelligenz (KI) sich selbst als solche entlarven kann. Ob echt oder nicht: die Macht der Bilder ist enorm. Bilder berühren unsere Netzhaut, gelangen ins Gehirn, gehen in seinen Windungen eigene Wege und wirken so mehr oder weniger bewusst auf unsere Sicht der Welt ein. Um Bilder jenseits des emotionalen Anklangs zu verstehen, braucht es viel mehr als 1000 Worte. Wer publiziert welche Bilder zu welchem Zweck an welchem Ort? Die über 180jährige Geschichte der Fotografie hat immer wieder gezeigt, dass sich Menschen dieser Macht bedienen und Bilder auch mal zu ihren Zwecken zurechtbiegen, nicht erst im KI-Zeitalter.

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Jetzt wird’s zu bunt!

Wie die Bäume ihr verdorrtes Laub, verlieren die Versicherten langsam, aber sicher die Nerven. Denn sie geht wieder los, diese ohnmächtige Suche nach dem «besseren» Angebot, im Namen eines verordneten Glaubens an die «Marktkräfte». Dabei müssen die 49 Krankenversicherer im Obligatorium per Gesetz alle dasselbe anbieten. Zugegeben, die schiere Menge an Anbietern war auch schon mal schlimmer: 1903 waren es über 2000, 2014 immerhin noch 60. Doch die Bemühungen um eine Einheitskrankenkasse sind schon zweimal an der Krankenkassenlobby mit ihren Werbemillionen gescheitert. Deshalb ist und bleibt es nervenaufreibend. Und treibt die Kosten zusätzlich in die Höhe: Nach der letztjährigen Ankündigung der steigenden Prämien sind die Werbekosten der Kran­kenkassen von ungefähr 62 Millionen auf 100 Millionen gestiegen. Obendrauf kommt der Schock über die Prämienerhöhung von durchschnittlich 8,7 Prozent. NONSENS. Offiziell begründet der Krankenkassenverband Curafutura diesen massiven Anstieg damit, dass die Prämien die Kosten nicht mehr decken würden. Die Zahlen zeigen aber: 2022 flossen durchschnittlich 3760 Prämienfranken pro Kopf an die Kassen. Für die Leistungen gaben sie jedoch nur 3707 Franken pro Kopf aus. Anders ausgedrückt: Die Bevölkerung bezahlte mehr, als ihre medizinische Versorgung tatsächlich kostete. Ähnlich 2021: Die Kassen bezahlten Kosten von 3627 Franken pro Kopf, nahmen aber mit den Prämien 3788 Franken ein. Und ab mindestens 2011 zeichnen die Zahlen vom Bundesamt für Statistik dasselbe Bild.

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Die Schweiz, das Schaf

Mit viel Pathos und hoffentlich etwas weniger Weisswein feierte das Parlament am 12. September den 175. Geburtstag der Schweiz (auch wenn manche diesen lieber einem Mythos, einem deutschen Dichter und einem anderen Datum zuschreiben würden). Prost! «Das Theater ist klein, aber das Spektakel hat Grösse», berichtete der Franzose Alexis de Tocqueville. Nicht im Jahr 2023, sondern 1848. Weit weniger diplomatisch beschrieb der junge Friedrich Engels die Ereig­nisse vor der Staatengründung: Die «brutalen und bigotten Berg­stämme» würden sich «störrisch gegen die Zivilisation und den Fortschritt stemmen». Was andere Zeitzeugen wie Louis Napoléon, Karl Marx oder Michail Bakunin über die Gründung des schweizerischen Bundesstaates dachten, hat Jonas Komposch auf hier zusammengetragen. ABSURD. Seither hat die Verfassung zwei grosse Revisionen und Hunderte Teilrevisionen erfahren, und mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 wurden endlich auch die Frauen Teil des Bundesstaates. Im Laufe der Zeit haben das Proporzsystem, der Gleichstellungsartikel oder der Beitritt zur Uno Einzug in die Verfassung gehalten. Aber auch einige absurde und völkerrechtlich umstrittene Vorlagen wie etwa Kleidungsvorschriften (Burka-Verbot) oder Turmbaubestimmungen (Anti-Minarett-Initiative).

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Neue Staffel, Episode 1

Eine der ersten Ärzte-Serien flimmerte vor bald 70 Jahren über die Bildschirme. Sie hiess «Medic» und zeigte blutig echt den halbgöttischen Kampf von Dr. Styner um Leben und Tod. Heute bekannter ist «Emergency Room». 15 Jahre lang liess sie ihre Ärztinnen und Ärzte hochpulsig in einer Not­aufnahme nähen, transplantieren und in Lichtgeschwindigkeit Computertomographien interpretieren. Schon fast unsterblich scheint «Grey’s Anatomy». Ging es in den ersten Folgen (2005) noch hauptsächlich um die Liebeleien der Ärzteschaft, so wurde die Serie spätestens ab der 16. Staffel ein «politischer Kommentar». ­Themen wie Abtreibungsverbot, häusliche Gewalt oder Armut wurden Teil des Spitalalltags, schreibt die Historikerin Nadia Pettannice in ihrer brillanten Serien-Analyse auf geschichtedergegenwart.ch. KOMPLIKATIONEN. Chronisch sind jedoch bei diesen Serien die Auslassungen: Serienfiguren ohne Medizinstudium? Null. Schmerzhafte Heilungsprozesse? Keine. Endlose Stunden bei der Physio? Nie.

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Jetzt geht’s ans Läbige

Es begann schon vor einiger Zeit, doch nun häufen sich die Anzeichen. Da war diese Frau im Supermarkt, die kopfschüttelnd das Olivenöl wieder ins Regal zurückstellte und dazu murmelte: «Das isch z tüür.» Da war dieses Video («20 Minuten») über eine Familie: zwei Kinder, beide Eltern zu 100 Prozent berufs­tätig, Einkommen 8500 Franken. Am Ende des Monats bleibt ihnen: nichts. Da sind diese Kommentare zu Artikeln über die Teuerung & Co.: «am Ende des Monats lasse ich eine Mahlzeit pro Tag aus» oder «ich überlege mir, einen zweiten Job zu suchen» … LÄPPISCH. Im Jargon heisst das Kaufkraftverlust, Teuerung, Inflation … zu schweizerdeutsch: es geht ans Läbige. Und zwar deshalb, weil die Löhne nicht mit den Kosten Schritt halten. Zum Beispiel die Krankenkassenprämien: Seit 1997 sind die Prämien um 142 Prozent gestiegen, die Löhne hingegen um läppische 15 Prozent (die eindrückliche Grafik finden Sie hier). Oder die Mieten: Der Gewerkschaftsbund hat berechnet, dass die Mieten bis Ende 2024 um bis zu 8 Prozent steigen werden. Und das, obwohl viele Arbeitnehmende für 2023 nicht einmal den Teuerungsausgleich erhalten haben.

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Heldinnen der Energiewende

Die Protestbewegung «Renovate» ist durch ihre Klebeaktionen in aller Munde, und das nicht gerade in gehobener Sprache. So gemütserhitzend diese Klebereien auch sein mögen, so unspektakulär ihre einzige Forderung: die Schweiz soll ihre Häuser besser isolieren. Nicht gerade revolutionär, aber ein wichtiger Schritt für den Klimaschutz. Denn die Gebäude sind in der Schweiz für 44 Prozent des Energieverbrauchs und für rund einen Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. Das Klima dankt eine Gebäude- renovation gleich dreifach: weniger Wärme entweicht ungenutzt in die Luft, erneuerbare Heizsysteme heizen die Erderwärmung weni- ger an, und jedes Haus, das saniert wird, ist besser als ein Beton-Neubau.

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Lila Triumph

Es klingt wie ein 14.-Juni-Märchen: 30 Reinigerinnen treten frühmorgens nicht zur Schicht, an, sondern zum Streik! Und skandieren: «Mujeres, unidas, jamás serán vencidas!» (Wenn Frauen zusammenstehen, werden sie niemals besiegt). Und siehe da, eine kurze Verhandlungsrunde später: Sieg auf ganzer Linie! Die Reinigungsfirma verpflichtet sich, die Reisezeiten und Mittagsspesen zu bezahlen, für Lohngleichheit zu sorgen und die Löhne fortan pünktlich zu bezahlen. Es ist kein Märchen, sondern ein handfester Frauenstreik-Erfolg. SCHIMPF UND SCHANDE. Dabei sei Streik ver­altet, der Frauenstreik sowieso. Und überhaupt, was stürmen die Frauen denn jetzt noch immer? Gleichberechtigung sei ja schon Realität, Lohndiskriminierung eine Mär. Rechtsbürger­liche Männer (mit Verlustängsten?) twitterten den 14. Juni klein, Mitte-Frauen schrieben einen Bruch der Frauenbewegung herbei. In den Wochen und Monaten vor dem 14. Juni führten der Arbeitgeberverband und Politikerinnen und Politiker von rechts bis Mitte,

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Frauen brauchen keine Hilfe

«Ich habe jeweils am Montag meinen Papa-Tag. Damit kann ich meine Partnerin entlasten, damit sie mehr arbeiten kann.» Diesen haarsträubenden Satz gab Simon Wey vom Arbeitgeberverband im Schweizer Radio zum besten. Und das war nicht in den 1950ern, sondern 2023 in einem Gespräch über Teilzeitarbeit. Frau könnte diesen Satz als Arbeitgeber-Gedöns abtun, wenn er nicht gespickt wäre mit all den tief in den Köpfen verankerten alten Zöpfen in Sachen Gleich­berechtigung. Angefangen beim «Papa-Tag». Was soll das denn sein? Hängt Vaterschaft vom Wochentag ab? Montags Papa, Dienstags dann leider nicht mehr? Und hat sich jemals eine Frau erdreistet, ihren Anteil an der Kinderbetreuung als Mama-Tag zu bezeichnen? Mittwochs hängt sie dann die Mutterschaft in den Schrank und nimmt das Deux-pièces hervor?