Editorial Hammer, Amboss und rote Nelken Anne-Sophie Zbinden, 1. Mai 2024 — Mit dieser Ausgabe feiern wir Premiere! work hat schon zahlreiche Sondernummern, Extrablätter und Broschüren publiziert, aber noch nie zum 1. Mai! Es war also höchste Zeit. Denn der Tag der Arbeit ist wichtiger denn je. Ob im Detailhandel, auf dem Bau oder im Gewerbe: kein Fortschritt ist für immer errungen. Immer wieder, jedes Jahr und jeden Tag, müssen Büezer und Büezerinnen ihre Rechte vehement einfordern. Bauvorarbeiter Xhafer Sejdiu, der in den letzten 30 Jahren an jedem 1. Mai war, sagt es so: «Wir haben nie etwas geschenkt bekommen und werden auch in Zukunft nie etwas geschenkt bekommen.» FURCHTLOS Was der 1. Mai für sie bedeutet, sagen sieben Unia-Mitglieder in dieser Sondernummer, darunter auch Verkäuferin und work-Kolumnistin Laura Gonzalez. Das Leben ihrer aus Spanien eingewanderten Eltern sei geprägt gewesen von der Angst, die Schweiz verlassen zu müssen, von Fremdenfeindlichkeit und harter Arbeit. Anders als ihre Eltern geht Laura Gonzalez an diesem wichtigen Tag ganz furchtlos auf die Strasse. Um das zu fordern, was ihr und ihren Kolleginnen zusteht: «Gesundheit, gute Arbeitsbedingungen, faire Löhne und Respekt, verdammt noch mal!» mehr zu «Hammer, Amboss und rote Nelken»
Editorial Reizende Worte Anne-Sophie Zbinden, 18. April 2024 — Es ist eine blumige work-Ausgabe geworden, mit vielen roten Revolutionsnelken. Und eine tierisch starke dazu: Es geht um Katzen und Spatzen, Tiger, Immo-Haie und eine Sauerei. Zudem rücken wir auf acht Seiten Frauen ins Rampenlicht (von hinten nach vorn): Feuerwehrfrau Fiona Hofer, die Pazifi stin Clara Ragaz, Landwirtschaftsaktivistin Sonia Melo, die ermordete Politikerin Marielle Franco, Historikerin Raquel Varela, die oberste Mieterin Linda Rosenkranz, Tiger-Bändigerin Céline Z. und die Klimaseniorinnen. KLIMASENIORINNEN Klimaseniorinnen ist zurzeit in rechtsbürgerlichen Ohren ein Reizwort. Deshalb gleich noch mal: Klimaseniorinnen! Von Kindern und Seniorinnen, die sich fürs Klima einsetzen, scheinen sich Bürgerliche bedroht zu fühlen. Dabei hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ganz sachlich entschieden: Die Schweiz tut zu wenig für den Klimaschutz. mehr zu «Reizende Worte»
Editorial Immer wieder sonntags Anne-Sophie Zbinden, 28. März 2024 — Wegen eines Scoville-Tests fiel einst ein Sonntag aus. Je höher der Scoville-Wert, desto schärfer der Chili. Ganz scharf attackieren die Bürgerlichen den Sonntag und den Gesundheitsschutz. Doch der Reihe nach. «Immer wieder sonntags» – so der Schlager-Ohrwurm aus den 1970ern von Cindy & Bert. Es ist auch der Name einer Schlagersendung, die seit 1995 in den Sommermonaten jeweils sonntags ausgestrahlt wird. Moderiert wird sie seit 20 Jahren von Stefan Mross, der wiederum eines Sonntags im August 2014 die Sendung fluchtartig verlassen musste, weil ihm Chili-Sauce den Atem verschlug. Welchen Scoville-Wert die Sauce aufwies, ist nicht bekannt. HEMMUNGSLOS. Chili ist nicht jederfrau und -manns Sache, und Schlager schon gar nicht. Aber die Sendung zeigt: sonntägliche Rituale sind beliebt. Sei es ungebremst ausschlafen, hemmungslos dem Serien-Marathon frönen, endlich Zeit mit der Familie verbringen oder frühmorgens ein Ründeli joggen: am Sonntag ist alles etwas ruhiger, gemächlicher. Ineffizienz ist, o neoliberaler Graus, erlaubt. Übrigens sogar in pulsierenden Grossstädten. Wohl auch deshalb, weil jene, die Büezerinnen und Büezer zu Unzeiten chrampfen lassen, sonntags nicht in ihren wohltemperierten Büros sitzen. mehr zu «Immer wieder sonntags»
Editorial 13 mal Grandios Anne-Sophie Zbinden, 7. März 2024 — Ja, sie können es, die linken und fortschrittlichen Kräfte in diesem Land: Ja zu einer 13. AHV-Rente, Ja zu einer sozialeren Schweiz! Das ist mindestens 13 x gut. Nämlich mega, grandios, wunderbar, historisch, deutlich, klar, konkret, überwältigend, unglaublich, phantastisch, sensationell, überraschend und erstaunlich. Letzteres vor allem für die Gegnerinnen und Gegner der Initiative. Wenn sich die Gemüter etwas abgekühlt haben, werden sie vielleicht sehen, was an diesem Abstimmungsresultat wirklich erstaunlich ist. ERSTAUNEN I: Es geht um eine 13. AHV-Rente. Nicht mehr, aber natürlich auch nicht weniger. Bemerkenswert, dass sich die Wirtschaftsverbände und ihre Parteien so wahnsinnig dagegen sträubten, einen Schritt in Richtung Einhaltung der Verfassung zu tun, die eine Rente verlangt, die zum Leben reicht. mehr zu «13 mal Grandios»
Editorial Totgesagte leben länger Anne-Sophie Zbinden, 16. Februar 2024 — Sie sind in den Weiten des Internets zurzeit fast nicht zu übersehen, diese schwarzweissen Bilder mit dem Pöstler, der die AHV überreicht, daneben die zufriedenen Gesichter der Rentnerinnen und Rentner. Die Schweiz ist stolz auf die AHV, auf diese wahrlich geniale soziale Institution. Die AHV ist mit ihren 76 Jahren nach wie vor rüstig, fit und munter. Obwohl sie seit fast ebenso vielen Jahren totgesagt wird. Mit den ewiggleichen Argumenten, die work bereits 2017 aufgelistet hat und die bis heute bemüht werden: FINANZIELLER RUIN: 1947 warnten die Handelskammer und die Arbeitgeberverbände, dass die AHV keine sichere finanzielle Grundlage habe. Die Deckung sei unvollständig. Eine Abgabe von vier Prozent auf die Löhne genüge nicht. Heute warnen die Gegnerinnen und Gegner der 13. AHV-Rente vor nichts Geringerem als ihrem Untergang. «Die Initiative treibt die AHV in den Ruin», schreibt die FDP. Sie sei ein «Raubzug», so die SVP. Dabei ist die AHV kerngesund. Die Prognosen zu ihrem finanziellen Untergang lagen immer daneben. Und ausserdem: Wo waren diese rechten Stimmen, als es um die Erhöhung des Militärbudgets ging? Wie, bitte schön, soll diese finanziert werden? mehr zu «Totgesagte leben länger»
Editorial Lang lebe die Umverteilungsmaschinerie Anne-Sophie Zbinden, 26. Januar 2024 — Terroristen, Extremisten, Kriminelle. Das sind noch die anständigeren Bezeichnungen für Leute, die in den vergangenen Monaten Autobahnen blockierten: mit ihren blossen Händen, für das Überleben der Menschheit, für mehr Klimaschutz. BLOCKADE. Ganz anders das Echo auf die deutschen Bauern: Mit Traktoren, begleitet von Galgen und rechten Parolen, blockierten sie ebenfalls Autobahnen. Für ihr persönliches Überleben, für weniger Klimaschutz. Doch niemand empörte sich über die eingeschränkte Fahrt für freie Bürger, ganz im Gegenteil. Unmut, der sich in Protesten und Aktionen niederschlägt, gehört zur Demokratie. Deshalb sind auch die Bauernproteste legitim. Ziviler Ungehorsam wird jedoch mit unterschiedlichen Ellen gemessen. Dieselben Politiker und Medien, die gegen die Klimakleber hetzten und sie als Gefahr für die Demokratie bezeichneten, zeigen jetzt Gleichmut oder gar Verständnis für viel aggressiveres Gedankengut. GEFAHR. Zum Beispiel für den Mythos der «Eliten», die uns verraten hätten. Solches Gedankengut führte in den USA zum Sturm der Trump-Anhänger auf das Capitol. Noch schlimmer: die Idee der «Remigration», die zuletzt an einem Geheimtreffen in Potsdam diskutiert wurde. Die millionenfache Ausschaffung von Migrantinnen und Migranten als Lösung aller Probleme. Unmut zu nutzen für eine falsche Skandalisierung von Migration ist brandgefährlich und eine Gefahr für die Demokratie. mehr zu «Lang lebe die Umverteilungsmaschinerie»
Editorial Der Soundtrack unserer Gesellschaft Anne-Sophie Zbinden, 15. Dezember 2023 — «Es lebe hoch, es lebe hoch, der Zimmermannsgeselle». Dieses Lied war Ende des 18. Jahrhunderts ein Hit. Lehrer Joachim August Zarnack (1777–1827) schrieb es um zu einem Liebeskummerlied: «O Mägdelein, o Mägdelein, wie falsch ist dein Gemüte». Er stellt die untreue Geliebte in Kontrast zum Tannenbaum, der mit seinen immergrünen Nadeln als Symbol der Treue gilt. Ein paar Jahre später wurde das Stück zum Weihnachtslied. Der Refrain blieb unverändert: «O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie treu sind deine Blätter». Erst viele Jahre später setzte sich die Variante mit den grünen Blättern durch. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte die erstarkende Arbeiterbewegung die Melodie für sich. «The Red Flag» wird bis heute oft an Parteitagen der britischen Labour Party gesungen. Über die Geschichte dieses Weihnachtsklassikers schreibt work-Ratgeber-Autorin Maria Künzli. mehr zu «Der Soundtrack unserer Gesellschaft»
Editorial Mehr Meer ist nicht immer mehr Anne-Sophie Zbinden, 1. Dezember 2023 — Knietief steht er im Wasser, in Anzug und Krawatte, und spricht zur 26. Weltklimakonferenz: Die Rede aus dem Pazifik von Simon Kofe, Aussenminister des Südseestaates Tuvalu, ging 2021 um die Welt. Seine Botschaft: Wir gehen unter, aber alle anderen auch. Jetzt, kurz vor der 28. Weltklimakonferenz, hat Tuvalu einen Klimaasyl-Vertrag mit Australien unterzeichnet. Australien bietet erstmals einem anderen Staat aufgrund der Bedrohung durch den Klimawandel Aufenthalts- oder Staatsbürgerrechte an. WINTER ADE. Der höchste Punkt von Tuvalu liegt 5 Meter über Meer, derjenige der Schweiz auf 4634. Dass wir freie Sicht aufs Mittelmeer erhalten, ist daher eher unwahrscheinlich. Mit den tuvalisch weissen Stränden können wir ebenso wenig mithalten. In Sachen Auswirkungen der Klimakrise hingegen schon. Die Schweiz ist besonders stark betroffen. mehr zu «Mehr Meer ist nicht immer mehr»
Editorial Wie wild wiederholen Anne-Sophie Zbinden, 17. November 2023 — «Und im übrigen bin ich der Meinung, Karthago müsse zerstört werden.» Dieser berühmte Satz wird Cato dem Älteren zugeschrieben, einem erzkonservativen Politiker im alten Rom. Er fühlte sich bedroht durch den Reichtum Karthagos, der antiken Stadt nahe dem heutigen Tunis. Und sagte den Satz bei jeder noch so unpassenden Gelegenheit. Seine unsinnige Wiederholung zeigte aber Wirkung, die Römer zerstörten die stolze Stadt am Mittelmeer. GROTESK. «Und im übrigen bin ich der Meinung, die Ausländer seien schuld.» Dieser zerstörerische Satz ertönt sinngemäss von SVP-Exponenten zu allen noch so unpassenden Gelegenheiten, und die stupide Wiederholung verfehlt ihre Wirkung nicht, wie die Wahlen gezeigt haben. mehr zu «Wie wild wiederholen»
Editorial Noblesse oblige Anne-Sophie Zbinden, 3. November 2023 — Schweizer Reichenclans sind der Adel in unserem an Prinzessinnen und Prinzen sonst so armen Land. Mehr als ein Drittel der 300 reichsten Schweizerinnen und Schweizer sind Familien, schreibt das Wirtschaftsmagazin «Bilanz». Sie besitzen zusammen 346 Milliarden Franken. Sie engagieren sich, meist diskret im Hintergrund, für junge Musiktalente, für sportliche Nachwuchshoffnungen oder gar für die hungerleidende Bevölkerung Afrikas – Noblesse oblige. TÜRME. So bescheiden sich viele dieser Familien gerne geben, so einflussreich sind sie. Manchmal dort, wo wir es am wenigsten erwarten. Zum Beispiel der Aponte-Clan. Über sein Privatleben ist wenig bekannt, geraunt wird über seine drei identischen Ferienhäuser im Luxus-Skiresort Megève. Die Familie besitzt die Reederei MSC, ist Weltspitze im Frachttransport (gerne auch mit Schrottkähnen) und auf Platz drei bei den Kreuzfahrtschiffen. Und hat kürzlich zusammen mit einem anderen schrecklich Reichen (Johann Rupert, Richemont) für 4,2 Milliarden Franken Mediclinic International gekauft, die Eigentümerin der Hirslanden-Gruppe. Unser Beinbruch, ihr Profit. mehr zu «Noblesse oblige»
Editorial Was einmal gepostet … Anne-Sophie Zbinden, 20. Oktober 2023 — Es sind verstörende Bilder, die uns fast in Echtzeit nach dem grausamen Angriff der Hamas aus Israel und dem Gazastreifen erreichen. Sie zeugen von herzzerreissendem Leid. Gleichzeitig sind wilde Diskussionen darüber entbrannt, welche Bilder echt sind, welche fake und ob künstliche Intelligenz (KI) sich selbst als solche entlarven kann. Ob echt oder nicht: die Macht der Bilder ist enorm. Bilder berühren unsere Netzhaut, gelangen ins Gehirn, gehen in seinen Windungen eigene Wege und wirken so mehr oder weniger bewusst auf unsere Sicht der Welt ein. Um Bilder jenseits des emotionalen Anklangs zu verstehen, braucht es viel mehr als 1000 Worte. Wer publiziert welche Bilder zu welchem Zweck an welchem Ort? Die über 180jährige Geschichte der Fotografie hat immer wieder gezeigt, dass sich Menschen dieser Macht bedienen und Bilder auch mal zu ihren Zwecken zurechtbiegen, nicht erst im KI-Zeitalter. mehr zu «Was einmal gepostet …»
Editorial Jetzt wird’s zu bunt! Anne-Sophie Zbinden, 29. September 2023 — Wie die Bäume ihr verdorrtes Laub, verlieren die Versicherten langsam, aber sicher die Nerven. Denn sie geht wieder los, diese ohnmächtige Suche nach dem «besseren» Angebot, im Namen eines verordneten Glaubens an die «Marktkräfte». Dabei müssen die 49 Krankenversicherer im Obligatorium per Gesetz alle dasselbe anbieten. Zugegeben, die schiere Menge an Anbietern war auch schon mal schlimmer: 1903 waren es über 2000, 2014 immerhin noch 60. Doch die Bemühungen um eine Einheitskrankenkasse sind schon zweimal an der Krankenkassenlobby mit ihren Werbemillionen gescheitert. Deshalb ist und bleibt es nervenaufreibend. Und treibt die Kosten zusätzlich in die Höhe: Nach der letztjährigen Ankündigung der steigenden Prämien sind die Werbekosten der Krankenkassen von ungefähr 62 Millionen auf 100 Millionen gestiegen. Obendrauf kommt der Schock über die Prämienerhöhung von durchschnittlich 8,7 Prozent. NONSENS. Offiziell begründet der Krankenkassenverband Curafutura diesen massiven Anstieg damit, dass die Prämien die Kosten nicht mehr decken würden. Die Zahlen zeigen aber: 2022 flossen durchschnittlich 3760 Prämienfranken pro Kopf an die Kassen. Für die Leistungen gaben sie jedoch nur 3707 Franken pro Kopf aus. Anders ausgedrückt: Die Bevölkerung bezahlte mehr, als ihre medizinische Versorgung tatsächlich kostete. Ähnlich 2021: Die Kassen bezahlten Kosten von 3627 Franken pro Kopf, nahmen aber mit den Prämien 3788 Franken ein. Und ab mindestens 2011 zeichnen die Zahlen vom Bundesamt für Statistik dasselbe Bild. mehr zu «Jetzt wird’s zu bunt!»
Editorial Die Schweiz, das Schaf Anne-Sophie Zbinden, 15. September 2023 — Mit viel Pathos und hoffentlich etwas weniger Weisswein feierte das Parlament am 12. September den 175. Geburtstag der Schweiz (auch wenn manche diesen lieber einem Mythos, einem deutschen Dichter und einem anderen Datum zuschreiben würden). Prost! «Das Theater ist klein, aber das Spektakel hat Grösse», berichtete der Franzose Alexis de Tocqueville. Nicht im Jahr 2023, sondern 1848. Weit weniger diplomatisch beschrieb der junge Friedrich Engels die Ereignisse vor der Staatengründung: Die «brutalen und bigotten Bergstämme» würden sich «störrisch gegen die Zivilisation und den Fortschritt stemmen». Was andere Zeitzeugen wie Louis Napoléon, Karl Marx oder Michail Bakunin über die Gründung des schweizerischen Bundesstaates dachten, hat Jonas Komposch auf hier zusammengetragen. ABSURD. Seither hat die Verfassung zwei grosse Revisionen und Hunderte Teilrevisionen erfahren, und mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 wurden endlich auch die Frauen Teil des Bundesstaates. Im Laufe der Zeit haben das Proporzsystem, der Gleichstellungsartikel oder der Beitritt zur Uno Einzug in die Verfassung gehalten. Aber auch einige absurde und völkerrechtlich umstrittene Vorlagen wie etwa Kleidungsvorschriften (Burka-Verbot) oder Turmbaubestimmungen (Anti-Minarett-Initiative). mehr zu «Die Schweiz, das Schaf»
Editorial Neue Staffel, Episode 1 Anne-Sophie Zbinden, 1. September 2023 — Eine der ersten Ärzte-Serien flimmerte vor bald 70 Jahren über die Bildschirme. Sie hiess «Medic» und zeigte blutig echt den halbgöttischen Kampf von Dr. Styner um Leben und Tod. Heute bekannter ist «Emergency Room». 15 Jahre lang liess sie ihre Ärztinnen und Ärzte hochpulsig in einer Notaufnahme nähen, transplantieren und in Lichtgeschwindigkeit Computertomographien interpretieren. Schon fast unsterblich scheint «Grey’s Anatomy». Ging es in den ersten Folgen (2005) noch hauptsächlich um die Liebeleien der Ärzteschaft, so wurde die Serie spätestens ab der 16. Staffel ein «politischer Kommentar». Themen wie Abtreibungsverbot, häusliche Gewalt oder Armut wurden Teil des Spitalalltags, schreibt die Historikerin Nadia Pettannice in ihrer brillanten Serien-Analyse auf geschichtedergegenwart.ch. KOMPLIKATIONEN. Chronisch sind jedoch bei diesen Serien die Auslassungen: Serienfiguren ohne Medizinstudium? Null. Schmerzhafte Heilungsprozesse? Keine. Endlose Stunden bei der Physio? Nie. mehr zu «Neue Staffel, Episode 1»
Editorial Jetzt geht’s ans Läbige Anne-Sophie Zbinden, 18. August 2023 — Es begann schon vor einiger Zeit, doch nun häufen sich die Anzeichen. Da war diese Frau im Supermarkt, die kopfschüttelnd das Olivenöl wieder ins Regal zurückstellte und dazu murmelte: «Das isch z tüür.» Da war dieses Video («20 Minuten») über eine Familie: zwei Kinder, beide Eltern zu 100 Prozent berufstätig, Einkommen 8500 Franken. Am Ende des Monats bleibt ihnen: nichts. Da sind diese Kommentare zu Artikeln über die Teuerung & Co.: «am Ende des Monats lasse ich eine Mahlzeit pro Tag aus» oder «ich überlege mir, einen zweiten Job zu suchen» … LÄPPISCH. Im Jargon heisst das Kaufkraftverlust, Teuerung, Inflation … zu schweizerdeutsch: es geht ans Läbige. Und zwar deshalb, weil die Löhne nicht mit den Kosten Schritt halten. Zum Beispiel die Krankenkassenprämien: Seit 1997 sind die Prämien um 142 Prozent gestiegen, die Löhne hingegen um läppische 15 Prozent (die eindrückliche Grafik finden Sie hier). Oder die Mieten: Der Gewerkschaftsbund hat berechnet, dass die Mieten bis Ende 2024 um bis zu 8 Prozent steigen werden. Und das, obwohl viele Arbeitnehmende für 2023 nicht einmal den Teuerungsausgleich erhalten haben. mehr zu «Jetzt geht’s ans Läbige»
Editorial Heldinnen der Energiewende Anne-Sophie Zbinden, 30. Juni 2023 — Die Protestbewegung «Renovate» ist durch ihre Klebeaktionen in aller Munde, und das nicht gerade in gehobener Sprache. So gemütserhitzend diese Klebereien auch sein mögen, so unspektakulär ihre einzige Forderung: die Schweiz soll ihre Häuser besser isolieren. Nicht gerade revolutionär, aber ein wichtiger Schritt für den Klimaschutz. Denn die Gebäude sind in der Schweiz für 44 Prozent des Energieverbrauchs und für rund einen Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. Das Klima dankt eine Gebäude- renovation gleich dreifach: weniger Wärme entweicht ungenutzt in die Luft, erneuerbare Heizsysteme heizen die Erderwärmung weni- ger an, und jedes Haus, das saniert wird, ist besser als ein Beton-Neubau. mehr zu «Heldinnen der Energiewende»
Editorial Lila Triumph Anne-Sophie Zbinden, 16. Juni 2023 — Es klingt wie ein 14.-Juni-Märchen: 30 Reinigerinnen treten frühmorgens nicht zur Schicht, an, sondern zum Streik! Und skandieren: «Mujeres, unidas, jamás serán vencidas!» (Wenn Frauen zusammenstehen, werden sie niemals besiegt). Und siehe da, eine kurze Verhandlungsrunde später: Sieg auf ganzer Linie! Die Reinigungsfirma verpflichtet sich, die Reisezeiten und Mittagsspesen zu bezahlen, für Lohngleichheit zu sorgen und die Löhne fortan pünktlich zu bezahlen. Es ist kein Märchen, sondern ein handfester Frauenstreik-Erfolg. SCHIMPF UND SCHANDE. Dabei sei Streik veraltet, der Frauenstreik sowieso. Und überhaupt, was stürmen die Frauen denn jetzt noch immer? Gleichberechtigung sei ja schon Realität, Lohndiskriminierung eine Mär. Rechtsbürgerliche Männer (mit Verlustängsten?) twitterten den 14. Juni klein, Mitte-Frauen schrieben einen Bruch der Frauenbewegung herbei. In den Wochen und Monaten vor dem 14. Juni führten der Arbeitgeberverband und Politikerinnen und Politiker von rechts bis Mitte, mehr zu «Lila Triumph»
Editorial Frauen brauchen keine Hilfe Anne-Sophie Zbinden, 2. Juni 2023 — «Ich habe jeweils am Montag meinen Papa-Tag. Damit kann ich meine Partnerin entlasten, damit sie mehr arbeiten kann.» Diesen haarsträubenden Satz gab Simon Wey vom Arbeitgeberverband im Schweizer Radio zum besten. Und das war nicht in den 1950ern, sondern 2023 in einem Gespräch über Teilzeitarbeit. Frau könnte diesen Satz als Arbeitgeber-Gedöns abtun, wenn er nicht gespickt wäre mit all den tief in den Köpfen verankerten alten Zöpfen in Sachen Gleichberechtigung. Angefangen beim «Papa-Tag». Was soll das denn sein? Hängt Vaterschaft vom Wochentag ab? Montags Papa, Dienstags dann leider nicht mehr? Und hat sich jemals eine Frau erdreistet, ihren Anteil an der Kinderbetreuung als Mama-Tag zu bezeichnen? Mittwochs hängt sie dann die Mutterschaft in den Schrank und nimmt das Deux-pièces hervor? mehr zu «Frauen brauchen keine Hilfe»
Editorial Bügle, schaffe, chrampfe Anne-Sophie Zbinden, 28. April 2023 — Auf der Büez, im Stollen, in der Bude, im Gschäft, im Job. Bügle, schaffe, chrampfe, malochen, schuften oder Brötli verdienen – arbeiten halt. Doch wie gross sind die Brötli, und hat’s noch Speck drin? Das ist hier die Frage. Manche behaupten, die Brötli-Grösse hänge von der Leistung ab. Doch wer leistet mehr, die Reinigerin, die in vier Jobs an sieben Tagen pro Woche arbeitet, für 3400 Franken im Monat? Oder der Credit-Suisse-Manager, der vom stets frisch geputzen Büro aus Milliarden verlocht und dafür Boni kassiert? LOCH. Schaufeln, pflegen, backen. Schrauben, putzen, metzgen. Regale einräumen, Kinder betreuen, Ware verpacken – arbeiten halt. Leistungen, deren Systemrelevanz viele schon wieder vergessen haben. Zumindest manche Firmenchefs, als es darum ging, die Löhne zu erhöhen oder schon nur die Teuerung auszugleichen. Im letzten Jahr sind die Löhne in der Schweiz um gerade mal 0,9 Prozent gestiegen, schreibt das Bundesamt für Statistik. mehr zu «Bügle, schaffe, chrampfe»
Editorial Geld für Götter Anne-Sophie Zbinden, 14. April 2023 — Nervosität beruhigen, Panik verhindern, Vertrauen zurückgewinnen, Zuversicht vermitteln, freie Entfaltung zulassen. Was nach der Beschwichtigung trotziger Kinder klingt, ist der Jargon, mit dem die Finanzwelt über ihre Märkte spricht. Und sich damit gleich selbst demontiert. Denn diese Aussagen stehen im krassen Widerspruch zur traditionellen Sichtweise der Finanzmärkte: Nach der klassischen Theorie über die Kapitalmärkte kann es gar keine nervösen Märkte geben, weil der Markt ja vom Homo oeconomicus dominiert wird, vom stets logisch handelnden Menschen, der immer nach dem maximalen Nutzen strebt. GÖTTER. Seit Jahrzehnten wird zwar auch in den Wirtschaftswissenschaften Kritik an dieser Sichtweise geübt – aber offenbar nur mit mässigem Erfolg. Stattdessen erscheinen die «Märkte» als von menschlichem Handeln losgelöste Götter, die es zu besänftigen gilt. Notfalls auch per Aushebelung der Demokratie. Und dies nicht erst seit dem Untergang der Credit Suisse. Denn das Regieren per Notrecht gehöre angesichts grosser Finanzkrisen seit bald 100 Jahren zum Staatsverständnis der bürgerlichen Politik, schreibt Philipp Müller in seiner historischen Einordnung des jüngsten Bankenfiaskos. mehr zu «Geld für Götter»
Editorial Alles nur geklaut? Anne-Sophie Zbinden, 31. März 2023 — Money, money, money must be funny, in a rich man’s world – Geld ist lustig in der Welt der reichen Männer. Das werden sich die CS-Manager wohl auch gedacht haben, als sie in den letzten 10 Jahren zwar insgesamt 3 Milliarden Franken Verlust einfuhren und dennoch ganz fidel 32 Milliarden Franken Boni einsteckten . Dabei erfüllen Boni ihre Aufgabe nicht: im besten Fall sind sie wirkungslos, im schlechtesten Fall fördern sie betrügerisches Verhalten. Das sagt Antoinette Weibel im Onlineportal Ellexx. Sie ist Forscherin an der Universität St. Gallen (HSG), einer Institution fernab jeglicher linker Systemkritik. RIEN DE RIEN. Um die Finanzwelt zu retten, musste jetzt der Staat einspringen – 14 Jahre, zwei Monate und viele falsche Schwüre nach der UBS-Krise vom Dezember 2008. Denn statt an griffigen Kontrollen wurde fleissig an Karrieren gewerkelt. Non, rien de rien, non, je ne regrette rien … Die UBS dankt’s Finanzministerin Karin Keller-Sutter. Der Deal: Der Bankkonzern kann sich seine ärgste Schweizer Konkurrentin für läppische 3 Milliarden unter den Nagel reissen und bekommt dafür «Versicherungen» im Wert von 259 Milliarden Franken, das Risiko tragen wir alle – ist das alles nur geklaut? Eo, eo. mehr zu «Alles nur geklaut?»
Editorial Mini Bikini Anne-Sophie Zbinden, 17. März 2023 — Fast 450 Kommentare in drei Tagen: so viel Aufruhr verursachte ein Artikel über einen Berliner Oben-ohne-Entscheid in der NZZ. Die Kommentare schwanken zwischen Belustigung und «selber schuld an der Belästigung». Der Entscheid der «Ombudsstelle der Landesstelle für Gleichbehandlung» – publiziert am Weltfrauentag – erlaubt das «Schwimmen mit freiem Oberkörper» in ganz Berlin neu auch für weibliche Personen. Und: Ab sofort sei vom Bikinihöschen bis zum Burkini alles erlaubt. Zum Entscheid kam es nach einem Polizeieinsatz im Schwimmbad Kaulsdorf. Dort zog die Rettungsschwimmerin Lotte Mies oben ohne ihre Bahnen, bis die Polizei sie aus dem Becken holte und ihr die Schwimmbadordnungs-Leviten las. Worauf sich Mies abtrocknete und eine Diskriminierungsbeschwerde einreichte. mehr zu «Mini Bikini»
Editorial Widerspenstige Damen Anne-Sophie Zbinden, 3. März 2023 — Leoti Blaker schaffte es 1903 in die Schlagzeilen eines New Yorker Abendblattes: Als der Mann neben ihr im vollgepferchten Pferdetram immer dichter heranrückte und seine Hand an ihre Taille legte, fasste sie sich kurzerhand an den Hut und bohrte ihm die Hutnadel in den Arm. Emma Miller, engagierte Gewerkschafterin und Kämpferin für das Frauenstimmrecht, wehrte sich an einer Demonstration in Brisbane, Australien, gegen ihre Verhaftung: mit ihrer Hutnadel stach sie auf das Pferd des Polizisten ein. Hinaus zum 8. März! Hinaus zum 14. Juni! NADEL. Die Mode der Belle Epoque (etwa 1884 bis 1914) mit ihren engen Korsetts und überlangen Röcken brachte die Frauen einer ständigen Ohnmacht nahe und machte ihnen das Gehen schwer. Aber die Hutnadel, mit der sie ihre ausladenden Hüte befestigten, gab ihnen ein Mittel in die Hand, mit dem sie sich gegen Übergriffe wehren konnten. Oder auch mal, wie Bertha Benz, Gattin des Autopioniers Carl Benz, für die Reinigung eines verstopften Benzinrohrs verwenden konnten. mehr zu «Widerspenstige Damen»
Editorial Farbig bis bewegt Anne-Sophie Zbinden, 17. Februar 2023 — Ein Foto in Schwarzweiss: ein langer Tresen mit Kisten und Kistchen, gefüllt mit Weihnachtskugeln, strassverzierte Weihnachtsbaumspitzen am Laufmeter, Glitzerfäden überall. Vor dem Verkaufstisch steht eine Kundin. Sie trägt ein kokettes Hütchen mit Netz vor dem feinen Gesicht, einen schicken Mantel im Leopardenmuster, die schwarze Handtasche eingeklemmt unter dem Arm. Eine Hand steckt im Lederhandschuh, die andere hält einen glänzenden Tannenzapfen. Diesen streckt sie der Verkäuferin entgegen, der Gesichtsausdruck skeptisch, eine Spur herablassend. Die Verkäuferin, in feinkarierter Bluse und Strickjacke, hält ebenfalls einen dieser glitzernden Zapfen, der Blick gesenkt, leicht vornübergeneigt, leicht devot. mehr zu «Farbig bis bewegt»
Editorial Unerträgliche Ungewissheit Anne-Sophie Zbinden, 3. Februar 2023 — Das Dorf Fairbourne liegt an der malerischen Küste von Wales, Grossbritannien. 2014 meldete der Nachrichtensender BBC Wales: Fairbourne lasse sich nicht länger gegen das Meer verteidigen. Schon 2025 müsse es aufgegeben werden. Später zeigten sich die Behörden bereit, den schützenden Damm noch bis 2054 aufrechtzuerhalten. Danach wird das Dorf dem Meer überlassen. Die Klimakrise (zu der sich auch Baubüezer Käch, unser neuer Kolumnist, Gedanken macht) führt zu steigenden Meeresspiegeln, häufigeren und extremeren Stürmen. Deshalb wird Fairbourne nicht mehr bewohnbar sein, die rund tausend Einwohnerinnen und Einwohner müssen ihre Häuser verlassen. Werden sie die ersten europäischen Klimaflüchtlinge? mehr zu «Unerträgliche Ungewissheit»
Editorial Rösstli auf dem Energiekarussell Anne-Sophie Zbinden, 20. Januar 2023 — Auch Neo-Bundesrat Albert Rösti (SVP) durfte am Treffen der Reichen und Mächtigen in Davos dabei sein. Doch es lief nicht wie geschmiert: Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck benannte ihn kurzerhand um zu «Kollege Rösstli». Auch der Gasdeal mit Deutschland ging bachab. Wobei der Umweltminister Wasser nicht scheut, ist er doch auf der Website der Wasserkraftlobby (SWV) noch immer als ihr Präsident aufgeführt. Er war auch Präsident der Heizöllobby Swissoil, dazu jahrelang Atomlobbyist. Bis zu 16 Mandate brachte er unter einen Hut. Für weniger reich behutete eine schwindelerregende Anzahl von Rösstli-Drehungen. Wenn es um trümmlige Wendungen geht, ist auf Röstis Parteikollege Christian Imark Verlass. Seine Antwort auf die Energiekrise: «Schweizer Erdgas fördern!» Seit den 1950er Jahren taucht diese Idee immer wieder auf, mit steigender Absurdität. Geologisch betrachtet ist es relativ einfach: Ja, das schweizerische Mittelland erfüllt alle Voraussetzungen für Erdöl- oder Erdgasvorkommen. Aber nein, wir wissen nicht genau, wie gross die Vorkommen sind. Bei Probebohrungen stiess man zwar immer wieder auf Gas und Öl. Doch einzig im luzernischen Entlebuch wurde in den 1980er Jahren in sehr bescheidenen Mengen Erdgas gefördert. Politisch ist die Sache etwas komplizierter. mehr zu «Rösstli auf dem Energiekarussell»
Editorial Zahlen sagen mehr als tausend Worte Anne-Sophie Zbinden, 16. Dezember 2022 — 10 und 434'000'000'000. Diese zwei Zahlen haben’s in sich. Die erste wird meist nur beiläufig erwähnt, dabei müsste ihr immer ein grosses Ausrufezeichen folgen! Mit Elisabeth Baume-Schneider wurde die 10. Bundesrätin gewählt. Erst die 10.! Insgesamt hatte die Schweiz bereits 120 Bundesräte, davon aber nur 10 Frauen! Erst 13 Jahre nach der Einführung des Frauenstimmrechts kam 1984 mit Elisabeth Kopp eine Frau in die Regierung. Nach ihrem erzwungenen Rücktritt blieben die Männer dann wieder vier Jahre lang unter sich. Bis 1993 Ruth Dreifuss als zweite Bundesrätin und erste Gewerkschafterin in den Bundesrat gewählt wurde – nach heftigen Frauenprotesten gegen die Nichtwahl der offiziellen SP-Kandidatin Christiane Brunner. 1999 stiess Ruth Metzler dazu, musste aber vier Jahre später für SVP-Blocher ihren Sitz wieder räumen. Blocher wiederum wurde vier Jahre später durch Eveline Widmer-Schlumpf ausgetauscht, die als Sprengkandidatin Schweizer Geschichte schrieb. Danach wurde es ruhiger um die Frauen-Kandidaturen. Bis jetzt die von rechtsbürgerlicher Seite gerne als Gmögige (sprich harmlos) bezeichnete Elisabeth Baume-Schneider leicht überraschend gewählt wurde. mehr zu «Zahlen sagen mehr als tausend Worte»
Editorial Ode an die Stifti Anne-Sophie Zbinden, 2. Dezember 2022 — Wenn der Falafel-Dürüm plötzlich 2 Franken mehr kostet, wedeln manche den Aufpreis mit der Bankkarte einfach weg. Für andere wird das Dürüm-Zmittag zum Luxus. Zum Beispiel für Jonas Köchli (17), Detailhandel-Lernender im dritten Lehrjahr. Er hat mit work darüber geredet, wie sich die aktuelle Teuerung auf sein Leben auswirkt. Die steigenden Preise für Essen, Kleidung, Strom, Mieten und Krankenkasse treffen Menschen mit kleinen Portemonnaies besonders empfindlich – so auch Lernende mit ihren Mini-Löhnen. BELIEBT. Rund 200 000 Jugendliche drücken in der Schweiz die Berufsschulbank und legen in den Betrieben Hand an. Die meisten lernen kaufmännische Berufe, es folgen Verkaufsberufe und Lehren im Baugewerbe. Seit über 20 Jahren ist die Zahl der Lernenden konstant. Das duale System, bei dem die Ausbildung in einem Lehrbetrieb durch eine theoretische Ausbildung und Allgemeinbildung an der Berufsfachschule ergänzt wird, ist und bleibt ein Erfolgsmodell. In Europa gibt es nur wenige Länder, die ein ähnliches System kennen (Deutschland, Österreich, Dänemark). Wer eine Berufslehre absolviert, hat ein kleineres Risiko, arbeitslos zu werden oder langzeitarbeitslos zu bleiben, als Ungelernte. Das bekommen auch jene Migrantinnen und Migranten zu spüren, die keine Chance hatten, eine Berufslehre zu absolvieren. Und insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels braucht die Schweiz gut ausgebildete Berufsleute. Die Lehre ist ein beliebter und erfolgversprechender Einstieg in die Berufswelt. Zu Recht! mehr zu «Ode an die Stifti»
Editorial Tick Tack, Tick Tack Anne-Sophie Zbinden, 18. November 2022 — Die «Unruh» ist das Herzstück einer mechanischen Uhr. Sie gibt dem Ticktack den Takt vor. Zusammen mit der «Hemmung» sorgt sie dafür, dass die Zeit nicht im Nu verfliegt. Beide sind Teil eines filigranen «Schwingsystems», zuständig für Pünktlichkeit im Rädchenwerk. Die «Réglage», die Feinregulierung, erfolgt in ruhigster Handarbeit. Ein Auge blickt durch die Uhrmacherlupe, in der Hand die Pinzette: so erschaffen Uhrmacherinnen und Uhrmacher in jahrhundertealter Tradition ein Kunstwerk. Gefertigt aus weitgereisten Rohstoffen, für Kundschaft aus aller Welt – schon seit je ein globalisiertes Produkt. Ein Luxusprodukt. Rund 1,6 Millionen Franken kostet die Reverso Hybris Mechanica Calibre 185 des Traditionshauses Jaeger-LeCoultre im jurassischen Vallée de Joux. Die Reverso Tribute Duoface Calendar kostet noch 26 700 Franken, die Reverso Tribute Monoface Small Seconds gibt’s bereits für 8550 Franken. Das ist noch immer viel mehr, als eine Uhrenarbeiterin durchschnittlich im Monat verdient. Umso erfreulicher: Die rund 50 000 dem Uhren-GAV unterstellten Arbeiterinnen und Arbeiter erhalten bis zu 6,1 Prozent mehr Lohn. Eigentlich nichts als logisch. Denn das Geschäft mit den Luxusuhren läuft wie geschmiert. Monatlich melden die Uhrenkonzerne neue Export-Rekordzahlen. Bis Ende Jahr dürfte die Schweiz für deutlich mehr als 20 Milliarden Franken Uhren exportiert haben. Die Uhren-Patrons haben begriffen, wem sie diese Rekordumsätze verdanken. Und werden hoffentlich auch bei den kommenden GAV-Verhandlungen daran denken. mehr zu «Tick Tack, Tick Tack»
Editorial Das Phänomen Lula Anne-Sophie Zbinden, 4. November 2022 — 2022 ist das Jahr des fast endlosen Sommers. 1816 war das Jahr ohne Sommer. Heuer sind die Rekordtemperaturen menschengemacht. 1816 war die Staub- und Aschewolke nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien verantwortlich. Die Folge: Ernteeinbussen, Teuerung, Hungersnöte. Auch in der Schweiz. Deshalb machten sich in der Folge rund 2000 Schweizer Wirtschaftsflüchtlinge auf den beschwerlichen Weg nach Brasilien. Dort gründeten sie 1819 die Stadt Nova Friburgo, in den sanften, an die Voralpen erinnernden Hügeln nordöstlich von Rio de Janeiro. Anfang 2003 besuchte ich diese Stadt mit ihren Gruyère-Schaukäsereien und Chalets und lebte bei einer Familie in ihrem stattlichen Haus am Stadtrand. Kurz zuvor hatte in Brasilien eine neue Ära begonnen: Luiz Inácio da Silva, kurz Lula, Chef der Arbeiterpartei, war zum Präsidenten gewählt worden. Es herrschte Aufbruchsstimmung. Doch meine gutbetuchten Gastgeber freuten sich nicht. Sie hatten Lula nicht gewählt. Die Begründung hinter vorgehaltener Hand: Er könne ja gar nicht lesen und schreiben. Wie bitte? Aber klar, der gelernte Schlosser war und ist kein Präsident der Reichen. mehr zu «Das Phänomen Lula»