Horror in Gaza: Offener Brief an den Bundesrat
Wider das Schweizer Schweigen

Gewerkschafterin und Ex-Bundesrätin Ruth Dreifuss, Ex-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey sowie gut 80 weitere Persönlichkeiten haben einen offenen Brief an den Bundesrat unterzeichnet. Darin fordern sie eine klare Positionierung der Schweiz in Bezug auf die Verbrechen in Gaza.

HUNGERNDE KINDER: Da Israel humanitäre Hilfe systematisch blockiert, sind Hunderttausende
Zivilisten im Gazastreifen vom Tod bedroht. (Foto: Keystone)

«Die humanitäre Situation in Gaza ist katastrophal und eskaliert weiter. Das Welternährungsprogramm und Unicef berichten von einer sich ausbreitenden Hungersnot. Hunderttausende Zivilisten – vor allem Kinder – sind akut vom Tod durch Hunger, Krankheit und fehlende medizinische Versorgung bedroht. Die systematische Blockade humanitärer Hilfe durch Israel, die gezielte Zerstörung ziviler Infrastruktur und die massenhafte Vertreibung der Bevölkerung stehen in eklatantem Widerspruch zum humanitären Völkerrecht, insbesondere zu den Genfer Konventionen und ihren Zusatzprotokollen. Auf den bewaffneten Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023, der vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) als Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersucht wird, folgte eine dramatische Eskalation der Gewalt, die zu einer fatalen humanitären Situation in Gaza und dem besetzten palästinensischen Gebiet als Ganzes führte.

Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat in seinen Anordnungen vom 26. Januar und 28. März 2024 bestätigt, dass ein ‹plausibles Risiko eines Völkermords› in Gaza bestehe und Israel verpflichtet sei, ihn zu verhindern. Israel ignoriert diese verbindlichen Schutzmassnahmen bislang vollständig. Namhafte Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), Médecins sans Frontières (MSF), Amnesty International und Human Rights Watch dokumentieren fortlaufend schwerste Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht in Gaza. Das IKRK bezeichnet die Situation als ‹Horror›, der ‹die Grundlagen unserer Menschlichkeit in Frage stellt›. MSF spricht von ‹ethnischer Säuberung› und einem ‹Massengrab› für Palästinenser und Helfende. (…)

Israels politische und militärische Führung hat in den letzten Wochen offen die dauerhafte Besetzung des Gazastreifens und die Vertreibung weiter Teile der palästinensischen Bevölkerung angekündigt. Finanzminister Bezalel Smotrich erklärte, Gaza solle ‹vollständig zerstört› werden, und die Palästinenser sollten in Drittländer auswandern. Kommunikationsminister Shlomo Karhi sprach von einem ‹Deportationsplan› für die palästinensische Bevölkerung und forderte die Wiederansiedlung jüdischer Siedlungen in Gaza. Der nationale Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir bezeichnete die ‹Migration von Hunderttausenden aus Gaza› als ‹Lösung› und rief zur Rückkehr israelischer Siedler auf. Diese Aussagen verstärken den schwerwiegenden Verdacht, dass die israelische Regierung einen Völkermord an den Palästinenserinnen begeht, im Sinne des Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (Uno-Völkermordkonvention).

Renommierte israelische Juristen und Persönlichkeiten – darunter Omer Bartov, Michael Sfard, Omer Shatz, Amos Goldberg, Raz Segal, Eitay Mack, Zehava Galon und Ilan Pappé – haben öffentlich erklärt, dass die israelische Regierung Handlungen verübe, die Merkmale von Völkermord
und ethnischer Säuberung trügen. Als Depositarstaat der Genfer Konventionen ist die Schweiz gemäss Art. 1 verpfl ichtet, deren Normen nicht nur selbst zu wahren, sondern auch aktiv ihre Durchsetzung in anderen Staaten zu fördern. Zudem verpflichtet Art. 1 der Völkermordkonvention
die Schweiz ausdrücklich zur Prävention und Bestrafung von Völkermord. Im Namen der Einhaltung völker- und menschenrechtlicher Verpflichtungen fordern wir den Bundesrat auf, umgehend folgende Massnahmen zu ergreifen:

Gemäss Art. 1 der Genfer Konventionen fordern wir Sie auf, sich aktiv und öffentlich für einen sofortigen Waffenstillstand und den Schutz der Zivilbevölkerung in Gaza und dem Westjordanland einzusetzen.

Setzen Sie sich gemäss Art. 23 der IV. Genfer Konvention für den ungehinderten Zugang humanitärer Hilfe nach Gaza ein und stellen Sie die vollumfängliche finanzielle Unterstützung des Uno-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge UNRWA wieder her.

Gemäss Art. 34 der IV. Genfer Konvention ist die Geiselnahme verboten. Wir fordern Sie auf, sich für die bedingungslose Freilassung aller zivilen Geiseln einzusetzen. Ebenso fordern wir ein entschiedenes Eintreten für die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen, die ohne Anklage, ohne faires Verfahren oder entgegen rechtsstaatlichen Grundsätzen festgehalten werden.

Gemäss Art. 1 der Völkermordkonvention hat die Schweiz die Pflicht zur Prävention und Bestrafung
eines drohenden oder stattfindenden Völkermords. Wir fordern eine offizielle Stellungnahme des Bundesrats zur Plausibilität eines Völkermords in Gaza gemäss Definition des IGH, die sich auf die Völkermordkonvention stützt.

Gemäss dem Römer Statut und dem Bundesgesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen
(IRSG) ist die Schweiz verpfl ichtet, mit dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zu kooperieren. Wir fordern, dass sich die Schweiz ausdrücklich zur Unterstützung des IStGH bei der strafrechtlichen Aufarbeitung von mutmasslichen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord bekennt – unabhängig von der Täterseite – und ihre finanzielle Unterstützung für den IStGH deutlich verstärkt.

Gemäss Artikel 22 des Kriegsmaterialgesetzes dürfen Ausfuhren nicht erfolgen, wenn das Risiko besteht, dass sie zur Begehung schwerer Menschenrechtsverletzungen verwendet werden. Wir fordern, dass alle Exporte von Kriegsmaterial, Dual-Use-Gütern und Überwachungstechnologie nach Israel ausgesetzt werden, solange der Verdacht von Völkerrechtsverbrechen besteht.

Öffentliche Aufrufe zur Vertreibung einer Bevölkerungsgruppe verletzen das humanitäre Völkerrecht und die Uno-Charta. Wir fordern eine klare und explizite Verurteilung völkerrechtswidriger Aussagen israelischer Regierungsmitglieder.

Die Schweiz ist gemäss dem IGH-Gutachten vom Juli 2024, das die Rechtswidrigkeit der
israelischen Besetzung feststellt, sowie nach ihrernationalen Gesetzgebung verpflichtet, Massnahmen zu ergreifen, um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen. Der Bundesrat soll sicherstellen, dass die Schweiz nicht durch Handel, Investitionen oder andere Wirtschaftsbeziehungen dazu beiträgt, die illegale Besetzung der palästinensischen Gebiete
aufrechtzuerhalten, wo nötig in Abstimmung mit der EU.

Das erklärte Ziel der Schweizer Nahostpolitik ist eine Zweistaatenlösung. Die Schweiz soll sich für eine Lösung einsetzen, die Menschenrechte achtet, die Blockade des Gazastreifens auf hebt, illegale Siedlungen beseitigt, das Rückkehrrecht achtet sowie grundsätzlich gleiche Rechte für Palästinenser und Israeli gewährleistet. Besonderes Augenmerk gilt der Beseitigung israelischer Strukturen, die nach Einschätzung des IGH und weiterer Uno-Gremien gegen das völkerrechtliche Verbot von Apartheid verstossen.

Gemäss Art. 1 der Genfer Konventionen muss die Schweiz alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um Völkerrechtsverstösse zu verhindern. Wir fordern eine Überprüfung der gesamten Nahostpolitik der Schweiz hinsichtlich ihrer menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Kohärenz sowie eine öffentliche Rechenschaft über diese Politik. Die fortgesetzte Untätigkeit angesichts dokumentierter schwerster Verbrechen untergräbt nicht nur die Glaubwürdigkeit der internationalen Rechtsordnung. Mit seinem Schweigen riskiert der Bundesrat zudem, dass die Schweiz eine völkerrechtliche Mitverantwortung für das Versäumnis der Prävention eines Völkermords trägt.»

Den gesamten Brief und alle Unterzeichnenden finden Sie hier.

Demo in Bern

Solidarität mit Gaza – der Bundesrat muss endlich handeln! Palästinensische und jüdische Organisationen, der SGB, Grüne, SP, Amnesty International und auch die Unia unterstützen die grosse und friedliche Demo in Bern. Am 21. Juni, um 16 Uhr auf der Schützenmatte.

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