Von Schwarzenbach bis zur SVP
Den Rechten ging und geht es nie um das Wohl der Arbeitenden

Seit Jahrzehnten lanciert die SVP immer die gleiche ­Initiative. Unter den unterschiedlichsten Titeln. Aktuell geht’s angeblich um «Nach­haltigkeit». Ihr wahres Ziel: möglichst schlecht verdienende, schutzlose Arbeitnehmende, Pass egal. Ein Blick zurück nach vorn zur Abstimmung über die neuste SVP-Initiative.

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HERR BÜNZLI UND MÖCHTEGERN-TELL: Zwei Befürworter der Schwarzenbach-Initiative werben 1970 für ein Ja zum «Volksbegehren gegen Überfremdung». Doch die Initiative wird mit 54 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. (Foto: Keystone)

Seit über fünfzig Jahren dreht die Rechte in der Schweiz am gleichen Leierkasten. Der Liedtext variiert leicht, manchmal auch das Tempo – der Sound aber bleibt: Angst, Spaltung, die Verheissung einer wie auch immer gearteten Ordnung. Aktuell heisst das Stück «Nachhaltigkeitsinitiative», gestern war es die «Masseneinwanderungsinitiative», davor die «Überfremdungsinitiative».

3.  APRIL 2024: Die SVP reicht die Unterschriften für ihre «Nachhaltigkeitsinitiative» ein. (Foto: Keystone)

Immer geht es um dasselbe: Die Schuld an allem, was nicht mehr rundläuft – an steigenden Mieten, sinkender Kaufkraft, explodierenden Krankenkassenprämien –, liegt angeblich bei den «Ausländern».

Die 1960er: Arbeitskräfte willkommen, Menschen unerwünscht

In den Nachkriegsjahrzehnten erlebte die Schweiz einen beispiellosen Aufschwung. Fabriken, Hotels, Baustellen liefen auf Hochtouren, doch es fehlten die Hände und Köpfe. Hunderttausende Menschen aus Italien, Spanien, Portugal und dem damaligen Jugoslawien kamen, um zu arbeiten. Ein Drittel aller Arbeitsstunden im Land leisteten Menschen ohne Schweizer Pass.

Doch ihre Rechte endeten am Fabriktor, an den Baustellenabschrankungen und an den Beizentüren. Das Saisonnierstatut erlaubte nur befristete Aufenthalte: neun Monate Arbeit, dann raus. Kein Familiennachzug, kein Wohnortswechsel, keine Mitsprache. Stattdessen eine staatlich organisierte Arbeitsrotation, die Menschen zur Manövriermasse machte: billig, verfügbar, austauschbar.

27. SEPTEMBER 2020: Die SVP versucht es mit der Begrenzungsinitiative, das Volk sagt Nein. (Foto: PD)

Unter dem Deckmantel der «Steuerung» bestand so ein menschenunwürdiges System. Wer krank wurde, flog raus. Wer sich wehrte, verlor die Bewilligung. Die Saisonniers bauten Häuser, die sie selbst nie bewohnen durften, und Strassen, auf denen sie abends nicht willkommen waren.

Die 1970er: Der Anfang der Angstpolitik

Als der Ausländeranteil auf 16 Prozent stieg, sah der Industriellensohn und ehemalige Fröntler James Schwarzenbach seine Chance. 1968 lancierte er eine Initiative, die einen Ausländeranteil von höchstens 10 Prozent forderte. 350'000 Menschen hätten die Schweiz verlassen müssen. Die Initiative verbreitete unter den damaligen «Gastarbeitern» Angst und Schrecken. Der italienische Journalist Concetto Vecchio schildert in seinem vor 5 Jahren erschienenen Buch «Jagt sie weg» die bedrückende Atmosphäre, die auch das Leben seiner Eltern prägte. So ermahnten diese ihre Kinder zur Ruhe, indem sie warnten:

Sonst kommt Schwarzenbach.

Zeitweise beschworen Schwarzenbach und seine Anhänger eine pogromartige Atmosphäre herauf. Auch das beschreibt Vecchio eindringlich. So wurde zum Beispiel der Schreiner Alfredo Zardini aus Cortina in einem Lokal im Zürcher Kreis 4 brutal zusammengeschlagen und starb. Niemand half ihm. Sein Mörder Gerry Schwitzgebel fasste lediglich 18 Monate Gefängnis wegen «Notwehrexzesses». Unbekannte gratulierten Schwitzgebel zu seiner «Lektion für die Tschinggen» (mehr dazu in diesem work-Beitrag). Vor rund 55 Jahren – am 7. Juni 1970 – scheiterte die Initiative. Knapp. Bei einer Stimmbeteiligung von fast 75 Prozent sagten 46 Prozent der Männer Ja. Frauen hatten damals in der Schweiz weder Stimm- noch Wahlrecht.

Salonfähig bis heute

Doch die Schwarzenbach-Initiative machte Fremdenfeindlichkeit salonfähig, das ist sie noch heute. Der Bundesrat reagierte mit der sogenannten Globalplafonierung: Fortan wurden Einwanderungskontingente pro Jahr festgelegt. Doch das System war ein Betrug am eigenen Anspruch: Die Zahlen wurden der Nachfrage der Wirtschaft angepasst. Wenn es Arbeiter brauchte, wurden die Kontingente erhöht; wenn die Konjunktur einbrach, mussten zuerst «die Fremden» gehen.

1970: Widerstand gegen die Schwarzenbach-Initiative. (Foto: Sozialarchiv)

Die Kontingente bremsten die Zuwanderung nie. Aber sie zementierten die Ungleichheit. 1990 arbeiteten 120'000 bis 180'000 Menschen schwarz, viele von ihnen Migranten ohne Rechte. Und weil die Löhne selbst der «offiziell» angestellten Saisonniers im Schnitt 14 Prozent unter denen von in der Schweiz wohnhaften Arbeitenden lagen, drückten sie – unfreiwillig – das gesamte Lohnniveau (siehe Artikel unten). Eine Situa­tion, die den Arbeitgebern natürlich sehr passte.

Von der Abwehr zur Solidarität

Leider standen auch die Gewerkschaften in der sogenannten Ausländerpolitik lange auf der falschen Seite. Sie teilten – zumindest teilweise – die Logik der «Überfremdung». Doch immer mehr Migrantinnen und Migranten, besonders in der Bau- und Metall­industrie, organisierten sich gewerkschaftlich. Damit kam die Wende. In den 1980er und 1990er Jahren wuchs eine neue Generation kämpferischer Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter heran. Einer von ihnen war Vasco Pedrina, GBI-Chef und später Unia-Co-Präsident. Er nennt diesen Kurswechsel weg von der Abwehr und hin zur Solidarität eine «kopernikanische Wende».

Der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus zeigte 1543, dass sich nicht die Sonne um die Erde dreht, sondern die Erde und die anderen Planeten um die Sonne kreisen. Damit vertrieb er die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums, wo sie seit der Antike unbeweglich als unumstössliche Wahrheit stand. Die Gewerkschaften begannen, das Saisonnierstatut nicht mehr als Schutzwall, sondern als Schandfleck zu sehen. Sie dokumentierten die Lebensbedingungen in Baracken, forderten Gleichbehandlung und gewannen Verbündete in Italien, Spanien und Portugal.

Auch ökonomisch unsinnig

Nicht nur moralisch war das System unerträglich, es war auch ökonomisch unsinnig. Die fehlenden Rechte führten zu Lohndumping und schwächten damit alle Arbeitnehmenden. 1990 demonstrierten 20'000 Menschen in Bern gegen das Saisonnierstatut. Internationale Solidarität, politischer Druck und die Aussicht auf einen europäischen Binnenmarkt zwangen die Schweiz zum Umdenken und Einlenken.

Pedrina arbeitet in seinem 2018 erschienenen Buch «Von der Kontingentierungspolitik zur Personenfreizügigkeit» diese Entwicklung auf. Es gilt heute als Standardwerk und kann gratis heruntergeladen werden (Link zum Buch).

Ein historischer Fortschritt

Mit den Bilateralen I und der Personenfreizügigkeit (PFZ) endete 2002 die Ära der Kontingente. Wer in der Schweiz eine Stelle fand, durfte bleiben, die Familie mitbringen, Arbeitgeber und Wohnort wechseln.

2014: Das Volk sagt knapp Ja zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP. (Foto: Sozialarchiv)

Gleichzeitig erkämpften die Gewerkschaften die flankierenden Massnahmen (FlaM) – Kontrollen, Sanktionen, Instrumente gegen Lohndumping. Das war ein Paradigmenwechsel: Nicht Abschottung, sondern Gleichstellung soll die Löhne schützen. Vasco Pedrina sagt dazu:

Die Personenfreizügigkeit ist eine historische Errungenschaft. Sie gehört zu den Grundfreiheiten. Sie sorgt für Fortschritt und schützt, was zählt: gleiche Rechte, gleiche Löhne, gleiche Würde.

Und konkret machen die FlaM verbindliche Gesamtarbeitsverträge für Hunderttausende, Lohnkontrollen und Sanktionen gegen fehlbare Firmen möglich. Sie sind eine gewerkschaftliche Erfolgsgeschichte. Eine Erfolgsgeschichte für alle Arbeitnehmenden in der Schweiz. Und darum im Visier der marktradikalen Ideologen und ihrer Parteien. Allen voran der SVP.

SVP: Runter mit den Löhnen!

Das Nein zum EWR 1992 machte die SVP zur dominierenden Kraft der Angst. Sie professionalisierte, was Schwarzenbach begonnen hatte: die Politisierung der Migration als Dauerkrise. Fremdenfeindlichkeit als Geschäftsmodell. In immer kürzeren Abständen folgten ihre Initiativen. Aktuell geht’s um «Nachhaltigkeit». Nicht mehr als 10 Millionen Menschen sollen in der Schweiz wohnen.

1992: EWR-Nein beflügelt die SVP. (Foto: Sozialarchiv)

Zuerst sollen die Geflüchteten raus, was völkerrechtlich verboten und zahlenmässig irrelevant ist. Und dann soll die Personenfreizügigkeit gekündigt werden. Und damit die Bilateralen. Denn fallen die Bilateralen, fallen auch die flankierenden Massnahmen. Und um diese geht es den SVP-Milliardärinnen und -Multimillionären tatsächlich. Das haben sie auch schon offen zugegeben. Zum Beispiel an einer Medienkonferenz im Januar 2018. SVP-Nationalrätin und Milliardärin Magdalena Martullo-Blocher sagte damals: «Mindestlöhne, Entschädigungen, Arbeitszeit, Ferien usw. werden so (sie meint die flankierenden Massnahmen, d. Red.) einheitlich geregelt und jeglicher Wettbewerb unterbunden.»

Das kann nur beklagen, wer – wie offensichtlich Martullo-Blocher und Konsorten – unter «Wettbewerb» schlicht weniger Lohn, weniger Ferien und längere Arbeitszeiten versteht. Weil höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und mehr Ferien können Firmen jederzeit anbieten. Das würde bei Martullos Ems-Chemie unter Umständen sogar dazu führen, dass sich Martullo und ihre Schwestern nicht mehr Dividenden in den eigenen Sack stecken würden, als sie für alle Ems-Arbeitnehmenden an Löhnen und Sozialversicherungsbeiträgen bezahlen. Wollen sie natürlich nicht.

Und ohne die bei der SVP so verhassten FlaM könnten Arbeitgeber ungeniert Löhne drücken, Arbeitszeiten verlängern, Kontrollen abbauen.

Die Gegenstimme

Bereits in den vergangenen Jahren ist der Druck auf Menschen ohne Schweizer Pass massiv gestiegen. Während die Bürgerlichen «Steuerung» predigen und überall «Missbrauch» behaupten, wächst tatsächlich die Diskriminierung von Menschen ohne Schweizer Pass. Viele Migrantinnen und Migranten leben in der Schweiz weiterhin prekär. Dies in einem doppelten Sinn. Auf dem Arbeitsmarkt sind sie deutlich stärker als die alteingesessene Bevölkerung in Niedriglohnsektoren beschäftigt, haben befristete Stellen oder arbeiten auf Abruf.

Für Migrantinnen und Migranten ist eine solche Prekarität jedoch nicht einfach nur eine temporäre Herausforderung, die es mit Tüchtigkeit und Geschick zu bewältigen gilt. Die von der SVP – und den bürgerlichen Parteien in deren Seitenwagen – in den letzten Jahren durchgesetzten Verschlechterungen des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) haben dazu geführt, dass bereits zeitweise Armut für Menschen ohne Schweizer Pass zu einer existentiellen Gefährdung werden kann: Wer Sozialhilfe bezieht, verliert möglicherweise seine Bewilligung – und damit alles. Viele wagen nicht mehr, ihre Rechte einzufordern. Das entsprechende Dossier des SGB aus dem Jahr 2023 spricht Bände und zeigt Gegenmassnahmen auf: hier herunterladen.

Schützen statt hetzen

Dabei ist die Schweiz längst ein Einwanderungsland. Ohne Migrantinnen und Migranten funktioniert kein Spital, keine Baustelle und kein öffentlicher Verkehr. Sie sichern die AHV, sie pflegen, reinigen, bauen und lehren. Sie sind keine Bedrohung, sie sind Teil des Landes. Oder wie es SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard an der diesjährigen Migrationskonferenz sagte:

Die Schweiz lebt von der Migration. Menschen, die hierherkommen, um zu arbeiten und zu leben – das müssen wir schützen.


KontingenteUntauglich und unmenschlich

Es ist eine fixe Idee der Rechten: «mit ­Kontingenten Zuwanderung steuern». Alle Zahlen zeigen: Das hat noch nie funktioniert. Nirgends auf der Welt.

DIE MÄR DER GESCHÜTZTEN GRENZE: Kontingente schränken die Zuwanderung nicht ein. (Foto: Adobe Stock)

Immer wieder versprechen die SVP und ihnen mehr oder weniger nahestehende Ökonominnen und Ökonomen, mit Kontingenten lasse sich die Zuwanderung «steuern» und die Schweiz «entlasten». Doch das ist ein längst widerlegter Mythos. Die Fakten zeigen: Kein Kontingentsystem der Welt hat Migration je wirksam begrenzt – auch nicht jene der Schweiz, die unter unterschiedlichen Titeln bis 2002 in Kraft waren.

Arbeitgeber-Traum

Das frühere System legte jedes Jahr eine Höchstzahl sogenannter Aufenthaltsbewilligungen fest. Tönt nach klaren Regeln und auf den ersten Blick nachvollziehbar. In der Realität wurden die Zahlen aber stets den Wünschen der Wirtschaft angepasst. Wenn in der Hochkonjunktur Arbeitskräfte fehlten, hob der Bundesrat die Kontingente an. Und wo sie nicht reichten, holten sich Unternehmen die Leute trotzdem. Als Kurzaufenthalter, Subunternehmer oder schlicht und einfach schwarz.

Das bis heute bestehende Kontingentwesen für Drittstaatenangehörige, als Menschen ohne Pass eines EU- oder Efta-Landes, bestätigt das: Sie «steuern» nichts, sondern werden den Bedürfnissen der Firmen angepasst. Die Mehrheit ist in akademischen oder leitenden Funktionen tätig. Doch eine wachsende Zahl prekär Beschäftigter aus Drittstaaten arbeitet in Privathaushalten, Pflege, Reinigung, Logistik und Gastronomie. Den Arbeitgebern gleich ausgeliefert wie einst die Saisonniers.

Mehr Lohndruck, weniger Rechte

Das alte Kontingentsystem war nicht nur wirkungslos gegen die Zuwanderung, sondern sozial zerstörerisch. Es hielt Arbeitsmigrierende rechtlos, schuf Abhängigkeiten und drückte auf die Löhne von allen. Wer nur befristet im Land sein durfte, wehrte sich selten gegen Missbrauch. Der Arbeitgeber hatte die Macht, ob jemand bleiben durfte oder nicht. Das berüchtigte Saisonnierstatut war die brutalste Form dieses Systems: kein Familiennachzug, kein Stellenwechsel, keine Integration und viel Unmenschlichkeit und Ausbeutung.

Weltweit gescheitert

Auch anderswo wirken Kontingente nicht. Australien, Kanada oder Dänemark kennen ähnliche Modelle – mit demselben Ergebnis: Die Migration folgt der Wirtschaftslage, nicht der Politik. Wo die Nachfrage nach Arbeitskräften steigt, steigen auch die Einwanderungszahlen. Wo sie sinkt, gehen sie zurück. Das System steuert also nicht, es reagiert auf die Nachfrage der Firmen.

Was wirklich funktioniert

Alle Erfahrungen zeigen: Entscheidend ist, unter welchen Bedingungen Menschen kommen, um in einem Land zu arbeiten. Mit der Personenfreizügigkeit und den flankierenden Massnahmen kontrolliert die Schweiz heute Löhne und Arbeitsbedingungen direkt. Das schützt Einheimische und ­Zuwandernde gleichermassen. Und verhindert, dass Arbeitgeber Lohndumping betreiben.
Kontingente dagegen «steuern» nichts: Sie schaffen Unsicherheit statt Ordnung und Prekarität statt Inte­gration. Kontingente «beschränken» nichts, ausser die Rechte und die Löhne der Arbeitenden. Sie schwächen alle Arbeitnehmenden und fördern Schwarzarbeit.

Auf den Punkt: Wer heute noch Kontingente fordert, will nicht weniger Zuwanderung, sondern weniger Rechte für die Arbeitenden.

Lesetipp: Ökonomen des Gewerkschaftsbundes haben die Löhne, Arbeitsbedingungen und Arbeitslosigkeit in verschiedenen Migra­tionssystemen weltweit untersucht und verglichen. Ihre Studie können Sie hier gratis herunterladen.

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