Journalist Concetto Vecchio ist ein Kind italienischer Arbeitmigranten in der Schweiz:

«Schwarzenbach war der erste europäische Rechtspopulist»

Ralph Hug

Diskriminierung, Fremdenhass und Überwachung: Das erlitten ­Concetto Vecchios Eltern in der Schweiz. Sohn Vecchio geht ihrem Schicksal in ­seinem neuen Buch nach und zieht Parallelen zur fremdenfeindlichen Politik von heute.

BUONA NOTTE: Arbeiter in einer Unterkunft für italienische Saisonniers in Zürich, 1961. (Foto: Keystone)

work: Concetto Vecchio, Ihr Buch sorgt in Ita­lien derzeit für grosses Aufsehen. Sie erzählen darin die Geschichte Ihrer Eltern, die als arme Arbeiter in die Schweiz kamen. Als Saison­niers. Warum dieses Buch gerade jetzt?
Concetto Vecchio: Nach Jahrzehnten sass ich wieder einmal in Zürich auf dem Sechseläutenplatz. Da hörte ich eine Mutter, die auf italienisch mit ihrem Kind sprach. Das erinnerte mich spontan an meine eigene Kindheit in der Schweiz. Und daran, wie wenig ich eigentlich von der Geschichte meiner Eltern wusste. Mein Vater war einst aus dem Dorf Linguaglossa bei Catania in die Schweiz eingewandert, auf der Suche nach einem Job. Als ich 14 war, beschlossen meine Eltern, nach Sizilien zurückzukehren. Und ich musste mit ihnen mit.

Journalist und ehemaliges Saisonnier-Kind Concetto Vecchio. (Foto: ZVG)

Dann sind Sie sozusagen ein ­«umgekehrter Emigrant»: ein Italienerkind, das in
der Schweiz geboren wurde und dann nach ­Italien auswanderte.
Ja. Ich weiss, was Emigration heisst, weil ich sie am eigenen Leib erfahren habe. Ich bin gleichzeitig ein Italiener und ein Schweizer, der immer noch Mundart spricht. Der Entscheid zur Rückkehr nach Italien war für mich hart. Denn ich hatte alle Freunde in Lenzburg AG, wo ich aufwuchs. Ich habe noch heute viele Bekannte dort und habe auch lange mit ihnen korrespondiert, als es noch kein Mail und kein Internet gab. Ich lebe aber seit langem mit meiner Familie in Rom, wo ich als Journalist arbeite. Es ist aber nicht allein die Familiengeschichte, die mich zu diesem Buch bewog.

Sondern?
Meine Mutter erzählte mir von den Ängsten, die sie und viele Landsleute zur Zeit der Schwarzenbach-Ära ausstanden. Alle hatten in den 1970er Jahren grosse Angst, plötzlich aus dem Land geworfen zu werden. Ich recherchierte die damalige Situation mit dem allgegenwärtigen Fremdenhass, den unerwünschten «Tschinggen», der so­zialen Diskriminierung mit den Baracken, dem Saisonnierstatut, der Überwachung durch die Fremdenpolizei usw. Das kann man sich heute fast nicht mehr vorstellen. Aber es war für unsere Elterngeneration eine traurige Realität. Höchst inter­essant ist vor allem die Figur von James Schwarzenbach, der die beiden Volksinitiativen gegen die Überfremdung lancierte (siehe Artikel unten).

«Rassist Salvini redet genau gleich wie Schwarzenbach.»

Wie schätzen Sie Schwarzenbach ein?
Schwarzenbach war der erste fremdenfeindliche europäische Rechtspopulist. Seine Parole «Schweizer zuerst!» ist eine Blaupause für den nationalistischen Populismus der Gegenwart. Der heutige italienische Innenminister Matteo Salvini von der Lega redet genau gleich wie Schwarzenbach. Er macht die Immigrantinnen und Immigranten für vieles verantwortlich und tritt selber als Retter der Heimat auf. Salvini ist ebenfalls ein politischer Aussenseiter, wie Schwarzenbach einer war, rhetorisch sehr begabt und schlagfertig, und er mischt nun die politische Szene auf. Wie Schwarzenbach weist auch Salvini jeweils den Vorwurf weit von sich, er sei ein Rassist. Dabei ist seine Politik genau so rassistisch, wie es die von Schwarzenbach war. Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden sind wirklich frappant.

Sie erinnern im Buch daran, dass die Italienerinnen und Italiener früher selber emigrieren mussten. So halten Sie ihnen den Spiegel vor. Hat Italien wie auch die Schweiz mit Schwarzenbach eine unaufgearbeitete Geschichte?
Wir Italiener haben kein gutes Geschichtsgedächtnis. Wir leben gerne in der Gegenwart. Anders als in Deutschland oder Grossbritannien hinterfragen wir unsere Vergangenheit kaum. Die eigene Migration ist auch kein Thema. Dabei hat jede italienische Familie mindestens einen Emigranten im Stammbaum. Italien ist sogar das Emigrationsland par excellence. Seit dem 19. Jahrhundert verliessen 30 Millionen Italienerinnen und Italiener auf der Suche nach Arbeit die Heimat. Aber man spricht hier ungern darüber. Vieles wird verdrängt. Wenn ich in meinem Buch diese Tatsachen schildere, so fühlen sich viele stark angesprochen. Betroffene können sich damit identifizieren.

Der riesige Erfolg Ihres Buches hat also mit der Aufarbeitung von Verdrängtem zu tun?
Ich glaube, das Geheimnis liegt in der Verschränkung meiner Familien- mit der Zeitgeschichte. Hätte ich nur das Schicksal meiner Eltern und meine persönlichen Gefühle als Emigrant beschrieben, hätte das wohl nicht genügt. Es gehört die derzeitige politische Situation in Italien dazu, welche die Leute bewegt und die mir hohe Aufmerksamkeit bringt. Ich bin davon selber überrascht, ja überwältigt. Innert zweier Monate hat mein Buch schon fünf Auflagen erlebt. Wo ich auftrete, habe ich volle Säle. Es ist einfach verrückt …

Auch in der Schweiz lebt Schwarzenbach weiter, in der aggressiv fremdenfeindlichen Politik der SVP …
… mir fehlt der genaue Einblick, um die politische Situation in der Schweiz zu beurteilen. Was ich sehe, ist, dass die Integration der Italiener letztlich sehr gut gelungen ist. Einst wollte man sie fortjagen, heute ist man stolz auf die italienische Kultur im eigenen Land. Junge Leute wissen gar nicht mehr, dass die Leute aus dem Süden einmal als «Tschinggen» beschimpft wurden, die man fortjagen wollte. Es fand ein ungeheurer Wandel statt. Im Rückblick gesehen hat Schwarzenbach kulturell klar verloren. Die grundsätzliche Angst vor dem Anderen hingegen ist geblieben. Genau mit dieser Angst macht die populistische Rechte Politik und hat Erfolg damit.

Warum ist der Rechtspopulismus ausgerechnet in Italien so stark?
Das hat mit dem Zusammenbruch der traditionellen Parteien im Tangentopoli-Skandal von 1992 zu tun. Der damalige Staatsanwalt Antonio Di Pietro legte ein System von Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteifinanzierung offen. Dann kam der grosse Umbruch. In die entstandene Leere stiessen neue Parteien mit einfachen Schlagworten oder starke Figuren wie Silvio Berlusconi oder jetzt Matteo Salvini. In solchen Zeiten schlägt jeweils die Stunde der Führer. Das ist für Italien nicht neu. Auch Diktator Benito Mussolini ist einst in einer Zeit grosser Umwälzungen an die Macht gekommen. Es war ja Italien, das den Faschismus erfunden hat. In diesem Land scheint seit je ein Hang zu starken Führern vorhanden zu sein.

Und was ist mit der Linken?
Diese wurde ebenfalls pulverisiert wie die alten bürgerlichen Parteien. Die Kommunistische Partei (PCI) hatte früher sogar einen Wähleranteil von bis zu 35 Prozent und mehr. Sie ist vollständig verschwunden und mit ihr auch eine ganze Kultur, die sie überall im Land entfaltet hatte, etwa mit den bekannten Unità-Festen in vielen Städten und Dörfern.

Weshalb existiert in Italien keine populäre neue Linke, wie sie in Spanien mit Podemos oder in Frankreich mit der Bewegung der ­«Unbeugsamen» von Jean-Luc Mélenchon erfolgreich ist?
Bei uns wird die Fünf-Sterne-Bewegung durchaus als linkspopulistisch eingestuft, und sie zieht auch eine entsprechende Wählerschaft an. Es ist nun aber so, dass diese, kaum an der Regierung, von Salvini und der Lega völlig überrumpelt und an die Wand gespielt wurde. Die Rechten sind einfach besser, schneller und wirksamer mit den Schlagworten und den einfachen Lösungen. Das verfängt bei breiten Schichten.

Welche Fehler hat die italienische Linke gemacht? Warum hat sie den Aufstieg des Rechtspopulismus nicht verhindert?
Die Linke hat viele Fehler gemacht. Der grösste war sicher die Vernachlässigung der sozialen Frage. Dies war der Hauptgrund, weshalb sich viele Menschen auch von den Sozialdemokraten abgewendet haben. So wurde ein Berlusconi möglich. Die Demokratische Partei (PD) als Nachfolgerin der Sozialisten macht bis heute keine gute Figur. Dies, obwohl mit Nicola Zingaretti seit wenigen Monaten ein Generalsekretär im Amt ist, der linker als alle seine Vorgänger ist.

Wenn Sie heute junge Leute fragen, so spielt für sie die ökologische Frage, die Klimapolitik eine grosse Rolle. Greta Thunberg ist die Figur, an der sie sich orientieren. Das sehe ich an meinen Kindern. Ich glaube, es gibt heute in Italien ein grosses Potential für eine neue grüne Partei, welche die Klimakrise thematisiert. Es müsste einfach jemand dazu die Initiative ergreifen.

Lesung: Concetto Vecchio stellt sein Buch an zwei Abenden in der Schweiz vor:
Freitag, 27. September, um 19.30 Uhr in der Kantonsschule Freudenberg in Zürich sowie
Samstag, 28. September, um 15 Uhr im Pfarreizentrum Lenzburg AG.

Journalist und Erfolgsautor: Concetto Vecchio

Concetto Vecchio ­wurde 1970 in Aarau geboren. Seine ­Eltern wanderten aus Sizilien aus und ­kamen in den 1960er Jahren in die Schweiz. Vecchio wuchs in Lenzburg AG auf und kehrte als Jugendlicher mit den ­Eltern nach Sizilien zurück. ­Heute lebt er in Rom und ist politischer ­Reporter bei der links­liberalen Tageszeitung «La Repubblica». Vecchio hat bisher zwei Bücher über die 1968er Bewegung in Trento und über ­einen Mord der Roten Brigaden an einem ­Journalisten 1977 geschrieben. Sein jüngstes Buch bricht ­Rekorde: «Cacciateli! Quando i migranti eravamo noi» (Jagt sie fort! Als wir selber die Migranten waren) erschien im letzten Frühling im Verlag ­Feltrinelli. Das Buch erscheint nächstes Jahr bei Orell Füssli auf deutsch.

 


James Schwarzenbach erfand den «Sautschinggen»-Rassismus Die unheimlichen Patrioten

James Schwarzenbach (1911 bis 1994) war ein Vordenker des Fremdenhasses. Seine Parteien waren Vorläuferinnen der SVP.

RASSIST: James Schwarzenbach. (Foto: Keystone)

«In Spanien wäre ich Faschist.» Das sagte Schwarzenbach einmal in einem Interview im Schweizer Fernsehen. Er war ein glühender Anhänger des spanischen Diktators Franco, der für den katholischen Faschismus steht. Daran erinnert der italienische Journalist Concetto Vecchio in seinem Buch «Jagt sie fort!» (siehe Interview). Doch nicht als Faschist wurde Schwarzenbach in den 1960er Jahren bekannt. Sondern als Wortführer aller Fremdenfeinde. Und das aus einem ganz bestimmten Grund. Schwarzenbach war Antikommunist. Treffend schreibt Vecchio: «Die Kommunisten und die Linken waren seine Obsession.» Schwarzenbach habe in den italienischen Migranten poten­tielle Subversive und Aufrührer gesehen. Leute, die streikten und anfällig waren für den Kommunismus.

work-Leseheft zu den Saisonniers
Die Barackenschweiz

Noch immer aktuell: das 48seitige work-Extra ­«Baracken, Fremdenhass und versteckte Kinder». Das reich bebilderte Heft blickt zurück auf die schweizerische Realität unter dem Saisonnierstatut. Zeitzeugen wie Bruno Cannellotto oder Aurora Lama erzählen. Es gibt Analysen von Ex-SGB-Chef Paul Rechsteiner und Recherchen zum helvetischen Rassismus. Und ein Interview mit Peter Bichsel über das kleine Land, «das schon ein Ausländerproblem hatte, bevor es Ausländer hatte». Download als PDF auf: rebrand.ly/work-broschuere

GROSSBÜRGER UND FRÖNTLER

Als Vecchio für sein Buch recherchierte, bemerkte er erstaunt, dass es kaum populäre Abhandlungen über Schwarzenbach gibt. Eine Ausnahme ist Isabel Drews Buch «Schweizer erwache!» aus dem Jahr 2005. Dieses sagt viel aus über den Patrizier mit der Brillantine im Haar, der nie Geld verdienen musste. Und der ein sorgenfreies Leben als Dandy, Literat und Schöngeist führte. Schon früh war der Grossbürgersohn rechts eingespurt. Als Student aus protestantischem Hause machte er in den 1930er Jahren bei den Fröntlern mit, die Hitler nacheiferten. Er zettelte auch Radau an gegen das Cabaret Pfeffermühle von Erika Mann und Annemarie Schwarzenbach (seiner Cousine). Dann konvertierte er zum Katholizismus und wurde immer mehr braun-schwarz. In seinem Thomas-Verlag gab er Schriften von Nazis, Antisemiten und rechtsextremen Verschwörungstheoretikern heraus.

VIA SCHLÜER ZU BLOCHER

Schwarzenbachs grosse Stunde schlug in der Hochkonjunktur. Die Schweiz brauchte Arbeitskräfte aus Italien und Spanien. Seine Parole «Die Schweiz den Schweizern!» war zwar nicht neu. Doch er traf damit den Nerv, wurde bekannt und 1967 in den Nationalrat gewählt als Kandidat der Nationalen Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat (NA). Seine Überfremdungsinitiative spaltete die Schweiz. Wäre sie angenommen worden, hätten bis zu 350 000 Menschen die Schweiz verlassen müssen. Vor allem Italienerinnen und Italiener. Doch 1970 wurde sie nach heftigen Debatten mit 54 Prozent abgelehnt. Schwarzenbach profilierte sich stets als einsamer Kämpfer gegen «die da oben». So wurde er zum Vorläufer aller heutigen Blochers, Le Pens und Salvinis, die im Namen des Volkes gegen das Establishment schimpfen und Fremdenhass schüren. Schwarzenbach, der «Mann, der nicht lachen kann» (Peter Bichsel), als Vordenker des europäischen Rechtsextremismus.

Eine direkte Linie führt von Schwarzenbach
zu Blocher.

Vom reichen und reaktionären Schwarzenbach führt auch eine direkte Linie zum reichen und reaktionären SVP-Führer Christoph Blocher. Personell und politisch. Blocher-Intimus und Ex-SVP-Nationalrat Walter Schlüer war einst Sekretär von Schwarzenbachs Republikanischer Bewegung. Und seit der ersten Überfremdungsinitiative von Schwarzenbach gab es insgesamt sieben Abstimmungen über fremdenfeindliche Volksbegehren: drei von Schwarzenbachs NA und den Republikanern, eine von den Schweizer Demokraten, zwei von der SVP und eine von FDP-Mann Philipp Müller. Alle scheiterten. Doch der einst von Schwarzenbach geschürte «Sautsching­gen»-Rassismus mottet weiter. Nur sind jetzt andere Migrantinnen und Migranten die Opfer.

1 Kommentar

  1. Pirmin Meier

    Die Formulierung „Schwarzenbach erfand den Saustschinggen-Rassismus“ ist, gerade wenn man zu Schwarzenbach kritisch steht, ihn aber kennt bzw. gekannt hat, so nicht haltbar. Der Katholik Schwarzenbach war weder ein Italienerhasser noch ein Fremdenhasser, jedoch ein Hasser des Zürcher Freisinns und seines ehemaligen Milieus, wie einst seine Cousine Annemarie. In einem „Republikaner“ lobt er mal ein Mädchen aus Yugoslawien, welches sich mehr für die Schweiz und Schweizergeeschihte interessierte. Dabei hatte er aber echtes Hass-Potential, gegen den linken, auch jüdischen Kulturkuchen, Antisemitismus ist mir in der Tat konkret aufgefallen; von seinen Sympathien zu Rechtsdiktaturen zu schweigen. Aber doch ein hochgebildeter Mann, Verfasser von gegen 20 Büchern, sehr gute historische Dissertation, kein schlechter Stilist, kultivierter Gesprächspartner, des Italienischen mächtig. Mein Freund, der italienische Alt-Linke und Gewerkschafter Sergio Giovannelli fotografierte übrigens mal noch mit einigem Respekt die Grabstätte Schwarzenbachs in St. Moritz und schrieb interessante Memoiren über die Schwarzenbachzeit, die ich rezensierte. Desgleichen der Zürcher SP-Gemeinderat und Arbeiterschriftsteller Karl Kloter. Der Artikel oben beruht leider nicht auf gründlichem Wissen.

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