Spitäler haben falsche Prioritäten
Zeigt uns das Vallée de Joux zum zweiten Mal den Weg in die Zukunft?

Die Spitäler «müssen» sparen. Müssen sie? Nein, sagt jetzt eine Protestbewegung im Vallée de Joux. Und zeigt, wie sich bessere Pflege finanzieren lässt. 

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DAS WAADTLAND IST WÜTEND: 2000 Menschen gingen im Vallée du Joux auf die Strasse. (Foto: Thierry Porchet)

Im Vallée de Joux hatte vor 35 Jahren die Uhrenarbeiterin Liliane Valceschini die Idee zum nationalen Frauenstreik (zum work-Beitrag). Ein Weckruf für die ganze Schweiz. 

Im Vergleich dazu scheint die kürzliche Demo im selben Waadtländer Tal eine regionale Sache: 2000 Menschen wehrten sich am 30. August für ihre massgeschneiderte Gesundheitsversorgung, bestehend aus kleinem Spital, Altersheim, Spitex und 24-Stunden-Notfalldienst. Die Kantonsregierung will dem Zentrum einen Sechstel des Jahresbudgets streichen. Für Noé Pelet von der Unia Waadt «ein massiver Angriff auf den Service public». Auch das Kantonsparlament hat kürzlich der Regierung die rote Karte gezeigt: Nicht ein Mitglied des Grossen Rates stimmte für die Kürzungen!

Doch der Protest im rauen Hochtal ist nicht nur für den Kanton Waadt relevant. Denn er macht sich stark für ein Instrument, das einen Ausweg aus der aktuellen Pflegekrise ermöglichen könnte. Und zwar für die ganze Schweiz.

EINER VON 2000: Demo-Teilnehmer im Vallée de Joux. (Foto: Thierry Porchet)

Grosses Potential

Die vorgesehenen Kürzungen betreffen den Topf für sogenannte gemeinwirtschaftliche Leis-tungen. Kantone können damit Spitäler finanziell unterstützen, wenn diese zum Beispiel eine Randregion abdecken. Das Instrument könnte jetzt an Bedeutung gewinnen. Reto Wyss, Ökonom beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB):

Damit können die Kantone auch Mehrkosten übernehmen, wenn Spitäler die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern.

Und das müssen sie. Vor vier Jahren hat das Stimmvolk Bund und Kantonen diesen Auftrag erteilt, indem es mit 61 Prozent die Pflegeinitiative annahm. Der Bundesrat hat dafür ein Gesetz ausgearbeitet. Aber die Finanzierung völlig ausgeblendet. Für die Pflegenden wie auch für die Arbeitgeber der Branche ist die Vorlage in dieser Form deshalb ungenügend. 

Paula Will, angehende Fachfrau Gesundheit und Unia-Mitglied, sagte zu work: Die Pflegenden zu entlasten, etwa durch kürzere Arbeitszeiten, sei dringend nötig. Aber: «Dann brauchen Spitäler und Heime mehr Leute, damit sie weiter funktionieren. Und das kostet. Sorry, aber das versteht ein Erstklässler!» (zum ganzen Beitrag)

Die Gefahren

In der Wintersession kommt das Gesetz in den Nationalrat. Reto Wyss vom SGB warnt. Ohne eine zusätzliche Finanzierung drohen negative Folgen für alle:

  • Höhere Kosten führen zu höheren Spitaltarifen, was die Prämien der Krankenkassen weiter in die Höhe treiben würde.
  • Kürzere Arbeitszeiten, aber nicht mehr Personal hiesse noch mehr Druck auf die Pflegenden. Genau das Gegenteil dessen, was das Stimmvolk beschlossen hat.
  • Der Sparzwang für die Spitäler würde sich weiter verschärfen.

Bereits in den letzten Jahren haben zahlreiche Spitäler in der Pflege abgebaut. Vor zwei Jahren kündigte das Kantonsspital St. Gallen an, 440 Stellen zu streichen (work berichtete).

Seither haben auch die Kantonsspitäler von Glarus, Baselland, Freiburg und das Berner Inselspital im grossen Stil Stellen gestrichen, die Zürcher Spitäler senkten die Reallöhne. Immer mit der Begründung, das Spital mache Defizit und «müsse» die Kosten senken.

Zum Abbau «gezwungen» 

Hinterfragt wird das kaum. Dabei ist offensichtlich: Kranke zu behandeln und zu pflegen ist nicht profitabel. Es kostet Geld. Das Geld kommt von Krankenkassen und Kantonen, also von uns allen gemeinsam. Denn das Gesundheitswesen ist Service public.

Warum aber jammern die Spitäler und sehen sich «gezwungen», Stellen zu streichen? Das liegt an einem politischen Entscheid aus dem Jahr 2007. Die «neue Spitalfinanzierung» machte Spitäler zu Konkurrenten. Das Versprechen: Sie sollten «effizienter» und die Kostenexplosion dadurch gestoppt werden. Heute zeigt sich:

Passiert ist das Gegenteil. Denn Markt ist im Service public ein Fremdkörper und führt zu falschen Anreizen. Oberstes Ziel der Spitalleitungen ist jetzt nicht mehr eine gute Gesundheitsversorgung, sondern Wirtschaftlichkeit.

Die Gewerkschaften kritisieren diese Fehlkonstruktion seit Jahren. Reto Wyss vom SGB sagt: «Im neuen Gesetz bekommt das Parlament jetzt die Chance für eine Korrektur.» Zur bisher ungeklärten Finanzierung könne es zum Beispiel verbindlich festhalten, dass Massnahmen für bessere Pflege als «gemeinwirtschaftliche Leistungen» gelten. Und die Kantone verpflichten, die Spitäler dafür zu entschädigen. Ganz im Sinne des Service public, so Wyss: «Wenn im Spital zufriedene und ausgeruhte Pflegende zu uns schauen, profitieren wir alle.»

Pflegedemo: Es ist 5 nach 12

Vier Jahre nach dem deutlichen Ja zur Pflegeinitiative zeigt sich: Der Vorschlag des Bundesrates zur Umsetzung ist lückenhaft. So lässt sich die langsame Zerstörung der Gesundheitsversorgung nicht aufhalten, das Parlament muss nachbessern. Unter dem Motto «Es ist 5 nach 12» ruft eine breite Allianz der Gesundheitsberufe zu einer gemeinsamen Kund-gebung am 22. November in Bern auf. Damit auch die Politik merkt: So kann es nicht weitergehen! Alle Infos hier.

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