Trotz Pflegenotstand: St. Galler Spitäler wollen 440 Stellen streichen

«Da machen wir nicht mit!»

Christian Egg

In den St. Galler Spitälern hat es zu wenig Pfle­gende – wie fast überall. Trotzdem kündigt ­das Spital eine Massen­entlassung an. Jetzt wehren sich die Pflegenden.

DEN ABBAU ABWEHREN: Pflegerinnen Sina Auer (l.), Nathalie Frey. (Foto: Stephan Bösch)

So etwas hätte Stationsleiterin Nathalie Frey (32) nie gedacht: Die St. Galler Spitäler wollen 440 Stellen abbauen. Das Mail des CEO traf sie am 28. September wie ein Blitz aus heiterem Himmel. «Und auch dann dachte ich noch, uns in der Pflege wird’s sicher nicht treffen, wir sind eh immer zu wenig Leute.»

Ihre Kollegin Sina Auer (26), stellvertretende Leiterin einer anderen Station, hatte schon ein paar Tage zuvor Gerüchte gehört: «Es hiess, am Donnerstag werde eine Bombe platzen.» Aber so richtig glauben konnte sie es nicht. In einer Zeit, in der Pflegekräfte verzweifelt gesucht werden, will ein Spital genau solche Fachkräfte auf die Strasse stellen?

Unterdessen ist klar: Genau das wollen die St. Galler Spitäler. Allein im Kantons­spital, wo Frey und Auer arbeiten, sollen 260 Stellen abgebaut werden, davon 120 in der Pflege. Und zwar schon dieses und nächstes Jahr. Die Kündigungsgespräche seien bereits angelaufen, sagt Nathalie Frey: «Fast jeden Tag erfahre ich wieder von jemandem, der oder die entlassen wurde.» Zwar wurde ihr, wie auch Auer, gesagt, dass es in ihrem Team keine Kündigungen geben werde. Trotzdem macht ihr der Abbauplan Sorgen. Sie sagt: «Wir brauchen mehr Leute, nicht weniger!»

«Wir müssten Dinge wie die Körpferpflege drastisch reduzieren.»

«GEZWUNGEN» – ABER DURCH WEN?

Nicht nur in der Ostschweiz reiben sich viele die Augen. Der Pflegenotstand verschärft sich von Tag zu Tag – und in St. Gallen sollen 440 Stellen wegfallen? Laut der Medienmitteilung des Verwaltungsrates an der Spitze aller öffentlich-rechtlichen Spitäler des Kantons fehle es an Geld: Man sei «aufgrund der finanziellen Situation» zum Abbau «gezwungen». Als ob die Buchhaltung irgendjemanden zu etwas zwingen könnte.

Richtig ist, dass viele Spitäler seit Jahren Verluste schreiben. Das liegt an der Spitalfinanzierung, wie sie 2007 von National- und Ständerat beschlossen wurde. Seither legen Tarife fest, welchen Betrag ein Spital für diese oder jene Behandlung verrechnen darf. Krankenkasse und Kanton zahlen genau diesen Betrag – unabhängig von den tatsächlichen Kosten.

Für Samuel Burri, Leiter Pflege bei der Unia, sind die Tarife in der Tendenz zu tief angesetzt: «In vielen Fällen decken sie nicht einmal die laufenden Kosten. Investitionen, etwa ein Spitalneubau, lassen sich mit diesen Einnahmen erst recht nicht finan­zieren.» Deshalb sieht das Gesetz auch vor, dass ein Kanton seine Spitäler direkt finanziell unterstützen kann, etwa für die me­dizinische Forschung oder um die Versorgung in den Regionen zu gewährleisten. Auch in St. Gallen bekamen die Spitäler gerade erst diesen Frühling eine Finanzspritze von 160 Millionen Franken – weil ihr Ka­pital durch die Defizite bedenklich geschrumpft war. Allerdings machte das von SVP, Mitte und FDP dominierte Kantonsparlament klar: Mehr gibt es nicht. Im Abstimmungsbüchlein hiess das so: «Die Mehrheit des Kantonsrates erwartet, dass die Spitäler betriebliche Optimierungen umsetzen, um in Zukunft bessere Ergebnisse zu erzielen.»

Landesweite Studie: Teilnehmende gesucht

Warum verlassen Fachkräfte das Gesundheitswesen? Wie lassen sich ihre Arbeitsbedingungen verbessern? Solchen Fragen geht eine gross angelegte Langzeitstudie der Universität Lausanne auf den Grund.

GRUNDLAGEN LIEFERN. Die Forscherinnen und Forscher suchen Pflegende, Ärztinnen usw., die bereit sind mitzumachen. Erklärtes Ziel des Projekts: Grundlagen zu liefern für Massnahmen gegen den Personal­mangel im Gesundheitswesen und für bessere Arbeitsbedingungen. Teilnahme und erste Ergebnisse: scohpica.ch.

REZEPTE AUS DER MARKTWIRTSCHAFT

Und hier liegt der Grund für die Abbaupläne: Rezepte aus der Marktwirtschaft ­werden eins zu eins aufs Gesundheitswesen übertragen. Im Glauben, Pflege lasse sich ebenso optimieren wie ein industrieller Prozess. Und das ist nicht so. Die Gesundheitsökonomin Mascha Madörin prägte dazu den Satz: «Sie können immer rationeller Autos produzieren. Aber Sie können nicht immer rationeller Menschen pflegen.» Genau das versucht jetzt offenbar der Spitalverwaltungsrat. Ziel der Abbaupläne sei es, «die Patientinnen und Patienten auch mit weniger Personal qualitativ gut betreuen zu können.» Wer’s glaubt … Stationsleiterin Auer hat soeben den Dezember-Einsatzplan erstellt und musste feststellen, dass sie 33 Mal einen Dienst à 8 Stunden 40 Minuten nicht besetzen kann. Im Schnitt fehlt also auf der Station jeden Tag mindestens eine Pflegekraft. Schon jetzt!

Ein weiterer Abbau wäre dramatisch. Nathalie Frey: «Wenn die Pflege unterbesetzt wäre, würden Patientinnen und Patienten ihre Medikamente nicht rechtzeitig erhalten. Und wir müssten grundlegende Dinge wie die Körperpflege drastisch reduzieren.»

MENSCHENLEBEN IN GEFAHR

Solche Zustände will niemand. Am aller­wenigsten die Pflegenden. Deshalb kämpfen sie jetzt gegen die Abbaupläne. Bereits haben die leitenden Pflegerinnen und Pfleger des Spitals gemeinsam in einem offenen Brief gewarnt, der Abbau würde die Sicherheit der Patientinnen und Patienten gefährden. Für den 23. Oktober ist eine Protestpause der Pflegenden im Innenhof des ­Spitals geplant, unterstützt von einem breiten Bündnis aus Gewerkschaften und Berufsverbänden. Gefordert sei jetzt der Kanton, sagt Sina Auer: «Die Politik muss Hand bieten für eine Lösung ohne Personal­abbau.» Im November wollen die Pflegenden mit einer Demo in St. Gallen die Bevölkerung aufrütteln. Auer sagt: «Für uns alle ist der Moment gekommen, wo wir aufstehen und sagen: Da machen wir nicht mit.»

7 Kommentare

  1. Christian Hackamp

    Ich als Deutscher, habe es bereits vor 15 Jahren kommen sehen: Die Idiotie, sich unser desolates Gesundheitssystem als Vorbild zu nehmen, führt schlussendlich genau zu diesen Zuständen.
    Und dann das Wahlergebnis von gestern … Man sollte sich auf jeder Seiten des Bettes warm anziehen.

  2. Thomas Rosenberger

    Kostenbremse im Gesundheitswesen geht letztlich nur über Leistungsabbau.
    Es ist jedoch sinnlos, diesen Leistungsabbau über die Reduktion des für die gewünschten Leistungen erforderlichen Personals erreichen zu wollen. Marktwirtschaftliche Massnahme sind nicht zielführend.
    Bevor beim Personal abgebaut wird, ist es Aufgabe der Politik zu definieren, welche Gesundheitsleistungen ein Patient zu gut hat, bzw. Wo muss eine Behandlung verweigert werden, weil sie zu teuer und zu aufwändig ist. Letztlich stehen wir vor der ethischen Entscheidung, was ist ein Menschenleben wert und wo müssen Ärzte und Pflegend einen Menschen sterben lassen, weil die Belastung für die Allgemeinheit sonst nicht mehr zumutbar ist.
    Es ist unethisch und unzumutbar, diese Triage dem Personal aufzubürden, indem man ihm wegen Personalmangel die Möglichkeit nimmt, die Aufgaben noch korrekt zu erfüllen.
    Solange die Politik hier ihre Aufgabe zu ethischen Diskussion der Grenzen der Gesundheitsleistungen nicht wahr nimmt, ist es Aufgabe der öffentlichen Hand das Gesundheitswesen zu finanzieren, so dass es für die breite Bevölkerung tragbar bleibt. Die Umverteilung erfolgt automatisch über die Steuerprogression.

  3. Lässer Walt Michaela

    Ich hatte das „Glück“, drei Tage nach der Pressekonferenz in einem der betroffenen Spitäler einen Eingriff geplant zu haben.
    Nicht nur, dass ich bei der Narkosenachsorge hautnah miterlebte, wie sehr die Situation die Mitarbeiter beschäftigt, so war es auf Station ebenso der Fall. Auch hier merkte man deutlich, dass das Personal niedergeschlagen und schockiert war.
    Ich hoffe, die Entscheidungsträger erinnern sich daran, dass noch vor ein paar Monaten mit „Klatschen“ versucht wurde die Pflegenden zu unterstützen und dies um ihnen einige Zeit danach den Boden unter den Füssen wegzuziehen.

    Was wurde aus: zu wenig Pflegepersonal und wir werden das ändern (übrigens schon über Jahre)?
    Ist nun die Änderung, dass die Bevölkerung keine optimale Pflege mehr erhält?
    Ist die Änderung dahingehend, dass sich Menschen, die ihre Aufgabe darin sehen, anderen zu helfen, nun auf die Strasse gesetzt werden?

    Optimale medizinische Versorgung ist ein Grundrecht in der Schweiz und sollte nicht an Profitdenken, Ebit, Rentabilität geknüpft sein.
    Sie sollte der Gesundheit der Bevölkerung dienen für die das Volk übrigens auch Steuern bezahlt.

    Zu Recht liebe Pflegenden in allen Bereichen: Steht auf und wehrt euch!

  4. Egli vreni

    Wo führt das alles noch hin????

  5. Maria Frauchiger

    Bedenken sollte man auch, dass durch die Unterbesetzung auch deutlich mehr Fehler passieren können. Komplikationen sind vorprogrammiert, Patient*innen leiden darunter. Die Kosten werden dadurch deutlich erhöht und nicht gesenkt.

  6. C.T

    Wie gerne würde ich Teil des KSSG bleiben. Doch leider habe ich keine andere Wahl, den das KSSG will mich nicht mehr (Kündigung aus wirtschaftlichem Grund). Als Mami ein schwerer Weg, den ich jetzt gehen muss. Eine Lösung zu finden, die für alle stimmt und bei der niemand zu kurz kommt. Ich war gerne ein Teil des KSSG. Alle haben gesagt : Beim Kanton angestellt, wow, so gut. Jetzt kann dir nichts mehr passieren und doch kommt es jetzt anders.

    Ich wünsche mir Gehör für die, die gehen müssen, für die, die bleiben und nun mehr leisten müsse und für die Patienten, die dem ausgeliefert sind.

  7. Claudia Knechtle

    Verwaltungsrats-Löhne und deren Anzahl z.B.von 9 auf 4 anpassen

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