Raquel H. lebte als ­Sans-papiers in der Schweiz
Ausgenutzt, verraten und vergewaltigt

Raquel H. (38) musste ihre Kinder zurücklassen, um vor der Bandengewalt in El Salvador zu fliehen. In der Schweiz erwarteten sie Missbrauch, Ausbeutung und die ständige Angst vor der Polizei. Doch mit der Aufenthaltsbewilligung hat sich das alles geändert.

TRAUMATISCH: Was Raquel H. als Sans-papiers in der Schweiz erlebte, hinterliess bei ihr tiefe Wunden. (Foto: Michael Schoch)

work: Wie sind Sie in die Schweiz gekommen?
Raquel H.: 2018 kam ich aus El Salvador in die Schweiz. Ich musste meine beiden Kinder im Alter von vier und zehn Jahren zurücklassen. Ich flüchtete vor der Bandengewalt und war voller Hoffnung. Als ich angekommen war, hatte ich lediglich das Geld für eine Monatsmiete. Ich war darauf angewiesen, möglichst schnell eine Arbeit zu finden.

Und wie haben Sie das ­gemacht?
Ich hatte kein persönliches Netzwerk und konnte auch kein Deutsch. Meine Vermieterin hat mir von einem Job in Chur erzählt, wo ich als Haushälterin auf einen Jungen aufpassen sollte. Man versprach mir 1000 Franken pro Monat, einschliesslich Kost und Logis. Das schien mir eine gute Gelegenheit. Aber in meiner zweiten Arbeitswoche schickte die Frau das Kind weg. Es stellte sich heraus, dass sie gar nicht die Mutter, sondern die Tante war.

Und Sie sind trotzdem ­geblieben?
Ja, die Frau sagte mir, dass ich als Haushälterin arbeiten würde. Am Wochenende ging sie weg, und es kamen zwei Freunde von ihr, für die ich kochen musste. Nach dem Essen ging ich in mein Zimmer und wollte mit meinen Kindern per Whatsapp sprechen. Doch die beiden Männer holten mich raus und offerierten mir einen Schnaps. Ich lehnte ab und habe dann trotzdem einen Kaffee mit ihnen getrunken. Ab da habe ich ein Blackout. Am folgenden Tag wachte ich auf, geschlagen und vergewaltigt.

Konnten Sie Hilfe holen in dieser Situation?
Ich konnte das niemandem sagen, denn ich hatte ja keine Aufenthaltsbewilligung. Wenn ich eine Anzeige gemacht hätte, wäre ich sofort ausgeschafft worden. Ich konnte nur weg von diesem Ort. Ich kann mich nicht mal mehr an die Adresse erinnern, die Erinnerungen sind zu schmerzhaft. Ich hatte grosse Angst. Ich musste sogar ein paar Nächte im Hauptbahnhof in Zürich übernachten, bis mich eine Frau zu den Mutter-Teresa-Schwestern im Zürcher Langstrassen-Quartier brachte. Während dreier Monate konnte ich dort ­leben, und in dieser Zeit habe ich auch die Spaz kennengelernt (siehe Box). Zusammen mit den Leuten vom Sans-papier-Kollektiv sind sie heute wie eine Familie für mich.

Nach drei Jahren haben Sie entschieden, Ihre Kinder in die Schweiz zu holen.
Ja, das war im Jahr 2021. Als meine Kinder kamen, konnte ich über vieles nicht sprechen: dass ich sie in El Salvador zurückgelassen hatte oder auch über die Vergewaltigung. Spaz organisierte uns psychologische Unterstützung und für die Kinder den Zugang zur Schule und die Krankenkasse.

Doch Sie lebten weiterhin versteckt in der Schweiz?
Bevor meine Kinder kamen, lebte ich in einer Wohngemeinschaft. Dort musste ich mich auch mal im Keller verstecken, weil mich jemand bei der Polizei verraten hatte. Auch bei allen Jobinseraten musste ich aufpassen. Jedes Bewerbungsgespräch konnte eine potentielle Falle der Polizei sein.

Welche Jobs haben Sie in ­dieser Zeit gemacht?
Ich habe in der Reinigung gearbeitet, auf Baustellen. Mit der ständigen Angst vor einem Unfall. In Privathaushalten habe ich auf Kinder aufgepasst, für 15 Franken pro Stunde, ein mieser Lohn trotz der grossen Verantwortung.

Und was hat sich geändert mit der Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung?
Ich habe jetzt einen Arbeitsvertrag und zahle Sozialversicherungsbeiträge. Und auch eine Krankenkasse habe ich, das war Voraussetzung für meine Aufenthaltsbewilligung. Im letzten Herbst habe ich geheiratet, und wir leben jetzt mit den Kindern in Bern. Ich arbeite in Langenthal BE in der Reinigung und verdiene 30 Franken pro Stunde. Das ist ein guter Lohn für den Moment. Eigentlich habe ich eine Ausbildung als Pharmazeutin, und in El Salvador habe ich während zehn Jahren in der Apotheke gearbeitet. Ich hoffe, dass ich eines Tages auch hier in einer Apotheke oder in der Pflege arbeiten kann.

20 Jahre Spaz: Politik für Sans-papiers


In der Schweiz leben heute über 70 000 Sans-papiers. Da sie keine Sozialhilfe beziehen können, sind die meisten Sans-papiers berufs­tätig. Ihr Alltag ist geprägt von der Angst, ausgeschafft zu werden. Organisationen wie Spaz und andere Beratungsstellen ermög­lichen nicht nur die Regularisierung, sie arbeiten zusammen mit der Plattform Sans-papiers Suisse auch an der Vernetzung und Verbesserung der politischen Situation für alle Sans-papiers.

Nationaler Backlash

Doch im Bundeshaus passiert das Gegenteil. In der Frühlingssession überwies der Ständerat eine Motion, welche die Behörden und Versicherungen zu einem systematischen Austausch von Personendaten verpflichten will, wenn sie Sans-papiers betreffen: Wohnort, Versicherungsstatus oder Leistungen von Sozialversicherungen müssten gemeldet werden, um «die Anwesenheit von illegalen Migranten dauerhaft zu bekämpfen».

Gute Entwicklung

Auf kantonaler Ebene gibt es dagegen auch politische Fortschritte. So etwa die «Opération Papyrus», bei der im Jahr 2018 im Kanton Genf über 1800 Menschen regularisiert werden konnten. Oder auch die Initiative für städtische Ausweise, die sogenannten Citycards, die in der Stadt Zürich und in Bern den Zugang zu städtischen Dienstleistungen verbessern und den Sans-papiers ermöglichen sollen, eine Anzeige zu erstatten, wenn sie Opfer von Gewalt und Ausbeutung wurden.

Leiden

Gemäss einer Studie leiden ehemalige Sans-papiers weniger häufig als Sans-papiers an Mehrfacherkrankungen wie Schulter-, Nacken- und Rückenschmerzen sowie an Übergewicht. Auch psychische Erkrankungen wie Depressionen gehen mit der Regularisierung zurück. (isc)

Spaz feiert sein 20-Jahr-Jubiläum.
Alle Infos zu den Aktivitäten finden Sie hier.

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