Jean Ziegler ‒ la suisse existe
Die Schweiz, ein Wunder

Jean Ziegler

Jean Ziegler

Unser Land ist ein reines Wunder. Unser Volk beträgt nur ein Promille der Menschheit. Wir haben eine staatliche Geschichte von 734 Jahren. In Morgarten haben die Verschworenen vom Rütli 1315 die ersten imperialen Armeen geschlagen und ihr erstes freies Territorium erobert. Die Eidgenossenschaft der drei ältesten Kantone ist gewachsen. Nach Morgarten ist sie auf die Eidgenossenschaft der acht Kantone angestiegen. Nach den Burgunderkriegen auf jene der 13 Kantone. Nach den napoleonischen Kriegen auf jene der 25 Kantone. Nach der heldenhaften Emanzipation der Jurassierinnen und Jurassier zählt die Eidgenossenschaft 26 Kantone. Im Herzen des Paktes von 1291 steht das Prinzip der Solidarität. Sie ist eine Errungenschaft und muss von Generation zu ­Generation verteidigt werden.

Bitter

Aber was sehen wir? Eine unannehmbare Armut, eine skandalöse Ungleichheit regiert in der Schweiz. Der aktuelle Bericht über die Armut in der Schweiz von Caritas zeigt: 709 000 Menschen sind von Armut betroffen – obwohl mindestens eine Person im Haushalt regulär arbeitet. In den Caritas-Märkten ist der Umsatz von 2021 bis 2023 um 35 Prozent gestiegen. Die Kundinnen und Kunden haben hauptsächlich Grundnahrungsmittel gekauft, während der Umsatz bei den Süssigkeiten zurückging. Das zeigt, dass die Menschen ihr Geld nur für das Nötigste ausgeben können. Die offiziellen Armutszahlen werden jeweils mit zwei bis drei Jahren Verzögerung veröffentlicht. Im Jahr 2022 waren 1,34 Millionen Menschen in der Schweiz von Armut betroffen oder bedroht. Das sind 15,6 Prozent der Bevölkerung! Die massiven Preissteigerungen ab 2022 sind in diesen Zahlen jedoch nicht berücksichtigt. Die Armut hat seither sicher noch zugenommen. Und bei fast 300 000 Personen, vor allem Frauen, reicht der Lohn nicht zum Leben. Aber nicht alle Haushalte sind von den steigenden Preisen gleich stark betroffen. Je ärmer ein Haushalt, desto mehr Geld gibt er im Verhältnis zu seinem Einkommen für die Güter des täglichen Bedarfs aus. Deshalb verschärfen die steigenden Lebens­haltungskosten die Ungleichheit in der Schweiz.

Garniert

Auch die Ungleichheit der Verteilung des Vermögens ist ein Skandal. 1,6 Prozent der Bevölkerung kontrollieren die Hälfte der Vermögen. Und die Ungleichheit nimmt stetig zu, denn die sehr hohen Einkommen steigen immer rascher. Beispiele: im Jahr 2023 hat UBS-Chef Sergio Ermotti 14,4 Millionen Franken kassiert. Der UBS-Chef garniert also jeden Tag ungefähr 80 000 Franken. Severin Schwan, bis März 2023 CEO des Pharmakonzerns Roche, hatte ein Einkommen von 15 ­Millionen Franken.

Inspiriert

Es gibt keine Machtlosigkeit in der Demokratie. Die Waffen der direkten Demokratie, die Verfassungsinitiative und das Gesetzesreferendum, sind einzigartige Waffen. Wir können morgen in der Schweiz die Ungleichheit abschaffen und die Einkommen begrenzen. Das Kollektivbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger, inspiriert durch die alte eidgenössische Solidarität, ist zu allem imstande.

Über dem Eingang zum Museum des Internationalen Roten Kreuzes und des Internationalen Halbmondes in Genf steht der Satz von Iwan Karamasow, aus dem Roman «Die Brüder Karamasow» von Fjodor Dostojewski: «Jeder ist für alles vor allen verantwortlich.»

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden ­Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im ­Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.

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