Schweizerischer Gewerkschaftsbund stellt den neusten Verteilungsbericht vor

Die Reichen kassieren, Mittel- und Unterschicht verlieren

Clemens Studer

Die unteren und mittleren Reallöhne stagnieren, die obersten Löhne steigen stark. Die Krankenkassenprämien explodieren, die Steuern für Topverdienende und Reiche sinken. Jene, die Tag für Tag hart arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen, haben immer weniger Geld im Portemonnaie. Die Gewerkschaften geben Gegensteuer.

UNIA-PRÄSIDENTIN VANIA ALLEVA: «Wer eine Berufslehre abgeschlossen hat, soll mindestens 5000 Franken im Monat verdienen.» (Foto: Gaetan Bally)

Der Chef des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse heisst Christoph Mäder. Economiesuisse ist der Verband der Konzerne und der Finanzindustrie. Er finanziert den bürgerlichen Parteien die Wahl- und Abstimmungskampagnen. Christoph Mäder sagte vergangene Woche: «Es geht uns sehr gut, und es geht uns schon sehr lange sehr gut.» Bedauerlicherweise unterliess es der «Tages-Anzeiger», dem Mäder seine Erkenntnis diktierte, nachzufragen, wer denn diese Mäder’schen «uns» sind.

Das «uns» der 90 Prozent in diesem Land kann Konzern-Vertreter Mäder jedenfalls nicht gemeint haben. Denn die Haushalte mit unteren und mittleren Einkommen machen seit Jahren finanziell rückwärts. Während die Oberschicht immer reicher wird. Dem reichsten Prozent der Bevölkerung gehört heute ein Drittel aller Vermögen. Das zeigt der neuste Verteilungsbericht des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB).

SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard. (Foto: Keystone)

SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard sagte bei der Präsentation der Ausgabe 2024: «Unser Verteilungsbericht versucht, der Realität des Landes gerecht zu werden. Er zeigt die Entwicklung der Kaufkraft nach detaillierten Bevölkerungskategorien. Er gibt sich nicht mit irreführenden Durchschnittswerten zufrieden. Und er berücksichtigt die reale Belastung durch die Krankenkassenprämien.»

Die Oberen kassieren

Was die Mehrheit in diesem Land tagtäglich am eigenen Leib erfährt, belegen die Zahlen der SGB-Wissenschafterinnen und -Wissenschafter schwarz auf weiss:

  • Die unteren und mittleren Reallöhne haben seit 2016 kaum zugenommen (rund +2,5 Prozent). Hauptgrund ist, dass zahlreiche Arbeitgeber ihren Kunden zwar höhere Preise verrechneten, aber nicht bereit waren, ihren Angestellten den Teuerungsausgleich zu gewähren. Das grösste Negativbeispiel ist der Bau, wo die Arbeitgeber zu gar keiner generellen Lohnerhöhung bereit waren. Beim bestbezahlten Prozent der Berufstätigen ging es dagegen steil in die Höhe. Die Reallöhne stiegen hier zwischen 2014 und 2022 um fast ein Viertel (+23,2 Prozent).
  • Die Krankenkassenprämien sind in den letzten beiden Jahren um 15 Prozent in die Höhe geschossen, während die Löhne stagnierten. Die Prämienbelastung hat sich in den letzten knapp 25 Jahren ungefähr verdoppelt. Darum sind die Prämien für immer mehr Haushalte nicht mehr tragbar. Im Jahr 2024 betrug die Standardprämie abzüglich Verbilligungen beispielsweise für Eltern mit einem mittleren Einkommen rund 14 Prozent des Nettolohnes. Eines der Hauptprobleme ist, dass die Kantone ihre Prämienverbilligungen nicht ausreichend erhöht haben. Während sich die Prämien real mehr als verdoppelten, wurden die Verbilligungen (ohne Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen) um nur etwas mehr als 30 Prozent erhöht.
  • Die Kantone senken dafür die Steuern auf sehr hohen Einkommen und Vermögen. Die Steuern für mittlere Einkommen sinken kaum. Die unsozialen Kopfprämien der Krankenkassen führen mittlerweile sogar dazu, dass die Steuerprogression (je mehr Einkommen, desto höher sind die Steuern auch prozentual) gebremst bis gestoppt wird.

In den Betrieben, auf der Strasse

Für SGB-Chefökonom Daniel Lampart ist deshalb klar: «Es braucht eine Wende in der Schweizer Lohn- und Einkommenspolitik.» Unia-Chefin und SGB-Vize Vania Alleva konkretisiert: «Wer eine Berufslehre abgeschlossen hat, soll mindestens 5000 Franken im Monat verdienen. Und generell soll niemand für einen 100-Prozent-Job weniger als 4500 Franken bekommen.» Damit sich die Lohnschere wieder schliesst und mehr Geld bei jenen ankommt, wie mit ihrer Arbeit den Profit der Firmen schaffen, braucht es höhere Löhne in den Gesamtarbeitsverträgen (GAV) – und mehr GAV. Unia-Chefin Alleva sagt es so: «Damit der Lohnrückstand und die Lohnlücke geschlossen werden, braucht es in diesem Lohnherbst substanzielle Lohnerhöhungen insbesondere bei den unteren und mittleren Löhnen. Nach wie vor gross ist auch der Handlungsbedarf bei den sogenannten Frauenberufen mit zu tiefen Löhnen. Wir werden die Lohnfrage in diesem Lohnherbst mit Aktionen in den Betrieben und auf den Strassen zum Thema machen.»


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