Sonia Melo macht sich für Landarbeitende stark

«Die Ausbeutung auf den Feldern hat System»

Johannes Gress*

Wer bestimmt die Preise von Gemüse und Früchten im Supermarkt? Und ­welchen Anteil erhält die ­Pflückerin? Viel zu wenig, sagt ­Sonia Melo, die sich mit der ­Organisation Sezonieri in Österreich für die Rechte der Erntehelferinnen und -helfer einsetzt.

MITTENDRIN: Sonia Melo von der Organisation «Sezonieri» sucht den Kontakt zu den Erntehelferinnen und -helfern direkt auf dem Feld. (Foto: ZVG/Sezonieri)

work: Wie kommen die Preise für Kohl, ­Rüebli oder Kartoffeln zustande?
Sonia Melo: Das ist kompliziert. Gerade in Österreich haben wir im Handel eine sehr hohe Machtkonzentration, es gibt nur drei Handelsketten: Rewe, Spar und Hofer. Das sind die drei grossen Abnehmer. Sie diktieren die Preise. Das Problem ist, und das zeigen auch viele Statistiken, dass über 50 Prozent des Verkaufspreises eines Produkts an den Handel gehen. Wir haben anhand eines Bundes Radieschen versucht, den Anteil zu berechnen. Das ist sehr kompliziert, aber wir konnten ermitteln, dass die Landarbeiterinnen und -arbeiter etwa 3 Prozent des Verkaufspreises erhielten, der Handel 55 Prozent.

Wie viel müssten denn die Erntearbeiter und -arbeiterinnen verdienen?
Meist verdienen sie in Österreich viel weniger als das, was der Kollektivvertrag vorschreibt. Der Vertrag schreibt Mindestlöhne zwischen 7 und 8 Euro pro Stunde vor, je nach Bundesland und Region. Ich habe noch nie Landarbeitetende getroffen, die das verdienen. Häufig wird für Unterkunft und Verpflegung viel zu viel abgezogen, es werden keine Sonderzahlungen gemacht und keine Überstundenzuschläge, Nachtzuschläge, Sonntagszuschläge bezahlt. An sich sind die Regelungen nicht so schlecht – das Problem ist, dass sie nicht eingehalten werden.

Woran liegt das?
Als wir 2014 mit der Sezonieri-Kampagne begannen, lag der Fokus unserer Arbeit auf Aufklärung. Wir haben festgestellt, dass die meisten Landarbeiterinnen und -arbeiter keine ­Ahnung haben von ihren Arbeitsrechten. Heute merken wir, dass die meisten zwar um ihre Rechte wissen, aber die Ausbeutung trotzdem in Kauf nehmen, weil sie den Job brauchen und Angst haben, ihn zu verlieren. Viele haben einfach keine Alternativen.

SONIA MELO, Organisation Sezionieri

Ist Unterbezahlung und Ausbeutung die Ausnahme oder flächendeckend der Fall?
Ausbeutung ist die Regel. Die Bauernvertreter reden sehr gerne von einzelnen schwarzen Schafen, aber de facto hat das System.

Aber auch die Bauern stehen unter Druck.
In Österreich gibt einen grossen Unterschied zwischen Kleinbetrieben und Grossbetrieben. Bei den Kleinen ist es tatsächlich so, dass sie unter Druck stehen. In den letzten 30, 40 Jahren wurden die landwirtschaftlichen Betriebe in Österreich immer weniger, aber sie wurden immer grösser. Die Kleinen können bei den vom Handel diktierten Preisen nicht überleben, nur Grossbetriebe mit hohen Stückzahlen und modernsten Maschinen schaffen es bei solchen Preisen, konkurrenzfähig zu bleiben.

Welche Verantwortung tragen die Kon­sumentinnen und Konsumenten?
Das ist ein schwieriges Thema: Ich finde, wir alle haben als Konsumentinnen und Konsumenten einen gewissen Spielraum. Unsere Kaufentscheidung ist wichtig, aber ich finde nicht, dass wir die Verantwortung haben, durch unsere Kaufentscheidung das System zu verändern. Die Verantwortung sollte bei den Produzierenden und der Politik liegen.

Die Sezonieri-Kampagne wird von der Produktionsgewerkschaft (Pro-Ge) unterstützt. Was können Sie, was die Gewerkschaft nicht kann?
Unser Hauptziel ist, das Thema auf die Agenda der Gewerkschaft zu bringen. Einerseits tut sich der Österreichische Gewerkschaftsbund mit Migrantinnen und Migranten nicht leicht, historisch, aber eigentlich bis heute. Da ging es oft dar­um, den Arbeitsmarkt für «unsere Leute» zu schützen. Andererseits sind Gewerkschaften heute sehr in­stitutionalisiert, die arbeiten von Montag bis Freitag – aber bei Landarbeiterinnen und -arbeitern muss die Gewerkschaftsarbeit am Sonntag stattfinden. Das ist der einzige Tag, an dem sie freihaben. Es braucht Leute, die aus dem Büro raus auf die Felder gehen und dort mit ihnen reden. Das macht die Gewerkschaft nicht – wir schon!

Was machen Sie, wenn Sie auf die Felder gehen?
In den meisten Regionen in Österreich sind landwirtschaftliche Felder offen, da kannst du einfach reingehen. In Wien haben wir das Pro­blem, dass es meist Gewächshäuser sind und wir nicht einfach reinkönnen. Deswegen bieten wir seit letztem Jahr jeden Sonntag Deutschkurse in der Nähe der Gewächshäuser an und versuchen so, miteinander ins Gespräch zu kommen. Das ist niederschwellig und kostenlos. Nach dem Deutschkurs fragen wir, wie es ihnen bei der Arbeit gehe, geben ihnen Infos zum Arbeitsrecht oder unterstützen sie bei Problemen.

Mit Corona hat die Gesellschaft fest­gestellt, dass wir ohne Migrantinnen und Migranten nicht ernten können. Hält ­diese ­Einsicht an?
Leider nicht. Während Corona war eine kurze Zeit eine Wertschätzung da. Plötzlich musste man Leute aus der Ukraine und Rumänien einfliegen, da angeblich nur sie diese Arbeit machen konnten. Aber diese Aufmerksamkeit war sehr kurz und genauso schnell wieder weg. Dass Leute da ein paar Meter vor der Haustür für 5 Euro pro Stunde arbeiten, ist wieder aus dem Bewusstsein verschwunden. Jetzt erleben wir gerade eine Teuerung, und natürlich, ich verstehe das, kaufen die Leute im Supermarkt billige Produkte. Eigentlich haben wir wieder einen Schritt zurück gemacht.

Sezonieri gibt es mittlerweile seit zehn Jahren. Was hat sich in diesen zehn Jahren verbessert?
Leider viel zu wenig. Was wir beispielsweise in Tirol oder im Burgenland merken, weil wir dort seit vielen Jahren aktiv sind: Viele Bäuerinnen und Bauern haben Angst vor schlechter Publicity, und deswegen halten sie die Mindeststandards ein. Da kommen wir wieder auf die Abhängigkeit von wenigen Grosshändlern zurück: Wenn du ­einen schlechten Ruf hast, hast du bald keine ­Abnehmer mehr. Teil unserer Arbeit ist es daher, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Niemand in Österreich kann heute sagen: Ich habe noch nie etwas von Ausbeutung in der Landwirtschaft gehört. Das ist zumindest ein kleiner Erfolg.

Was bräuchte es konkret, um etwas zu verbessern?
Ich finde, es gibt einiges, was man politisch machen könnte, um die Situation zu verbessern. Das Wichtigste ist: mehr Kontrollen, unangekündigte Kontrollen. In Simmering bekommen wir von den Leuten erzählt, dass sie im vorhinein schon immer von Kontrollen erfahren. Die nicht angemeldeten Arbeiterinnen und Arbeiter gehen dann «eine Runde spazieren». Das hat mit einer «Kontrolle» nichts zu tun.

*Johannes Gress ist freier Journalist in Wien. Seine Themen sind Arbeit, Migration, prekäre Beschäftigung, Gewerkschaften und Umwelt. Er ist leitender Redaktor der Zeitschrift «politix» vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, an der er zurzeit seine Dissertation zur Rolle des Staates in der ökologischen Krise schreibt.


Organisation10 Jahre Sezonieri

2013 gab es einen wilden Streik von 70 Landarbeitern und Landarbeiterinnen, die für den grössten Gemüsebauern in Tirol arbeiteten. Sie kamen überwiegend aus Rumänien, ­hatten sich ohne Unter­stützung der Gewerkschaft selbst organisiert und die Arbeit niedergelegt.

ENTSTEHUNG:

Die österreichische Produktionsgewerkschaft (Pro-Ge) wollte eine Unterstützungskampagne ins Leben rufen. Und hat Aktivisten und Aktivistinnen sowie Nonprofit­organisationen ins Boot geholt. Daraus entstand die Organisation Sezonieri ­(rumänisch für ­Saisonarbeiter).


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