Gewerkschaften lassen sich nicht übertölpeln

Der Lohnschutz bleibt die rote Linie

Clemens Studer

Bürgerliche und ­Medien führen wieder das ­«Gewerkschaften sind wie die SVP, wenn sie beim Lohnschutz nicht nachgeben»-Theater auf. Nur: Die Gewerkschaften spielen nicht. Sie meinen es ernst.

KLARE POSITION: Die Gewerkschaften haben bereits 2018 vor dem Bundeshaus den Lohnschutz verteidigt – und tun es jetzt wieder. (Foto: Keystone)

Ganz kurzer Blick zurück: 2018 wollten Marktradikale in der Schweiz und in der EU via ein sieben Jahre lang verhandeltes «Rahmenabkommen» den Schweizer Lohnschutz schrotten. Der damalige SGB-Präsident und SP-Ständerat Paul Rechsteiner roch den Braten und schlug Alarm. Nach monatelangem, medial wohlwollend unterstütztem Geheule, Gejammere und Gefluche von FDP, GLP und Mitte musste Aussenminister Ignazio Cassis seine Niederlage einsehen: Der Bundesrat brach die Verhandlungen zum Rahmenabkommen ab. Wer den Lohnschutz angreift, kassiert ein Nein der Gewerkschaften.

Die Gewerkschaften haben Öffnungen gegenüber der EU immer mitgetragen, wenn sie den Lohnabhängigen in der Schweiz nützten. Das war beim alten Rahmenabkommen nicht der Fall – und das ist auch aktuell nicht der Fall.

ES GIBT KEIN RÜTTELN

Die Haltung der Gewerkschaften ist ebenso einfach wie klar: Wer in der Schweiz arbeitet, muss einen Schweizer Lohn verdienen. Und ebenso stringent ist die gewerkschaftliche Position zu den aktuellen Verhandlungen mit der EU über institutionelle Abkommen: Ja zu Abkommen, aber zu solchen, die Schweizer Löhne schützen und ermöglichen, dies noch effizienter zu tun.

Doch auch nach dem Scheitern des alten Rahmenabkommens wollen das die Marktradikalen in Politik, Verwaltung und Arbeitgeberverbänden nicht einsehen: Das Verhandlungsmandat des Bundesrates stellt zentrale Pfeiler des Lohnschutzes in Frage. Konkret: Arbeitnehmer, die in die Schweiz entsandt werden, sollen keine Schweizer Spesen mehr bekommen, und die Sanktionsinstrumente der Kaution und der Dienstleistungssperre sollen ihre Wirkung verlieren. Und den Lohnschutz dürfte die Schweiz zwar dem Wortlaut nach wie bisher kontrollieren, aber er stünde unter dem Generalverdacht, den Marktzugang der Firmen zu behindern. Und dieser würde künftig stärker gewichtet als das Prinzip «Schweizer Löhne für Arbeit in der Schweiz».

Da machen die Gewerkschaften nicht mit. Das ärgert bürgerliche Politikerinnen und Politiker ungemein. Darum versuchen sie, die Gewerkschaften als rückständige Truppen darzustellen, die einfach nicht begreifen wollen, dass der Lohnschutz ja bereits gesichert sei. Und die vereinigten Zentralredaktionen aus dem Aargau und ­Zürich beteiligen sich munter an diesem Theater.

BAUSTELLE STROMABKOMMEN

Die vollständige Liberalisierung des Strommarktes ist ein alter Wunschtraum der Stromindustrie. Via EU-Abkommen möchten sie diese jetzt auch in der Schweiz durchsetzen. Der Bundesrat kommt ihnen mit einer «Wahlmöglichkeit» entgegen. Diese Wahl haben heute bereits kleine und mittlere Unternehmen mit mehr als 100 000 Kilowattstunden Jahresverbrauch. Unter dem Schlachtruf «Einmal frei, immer frei» liessen sich viele KMU-Chefinnen und -Chefs von ihren ideologischen Verbänden in den «freien Markt» treiben. Aber als vor zwei Jahren die Preise im gepriesenen freien Markt explodierten hatten Tausende Firmen existenzbedrohende Rechnungen im Haus. Und flugs wollten die Götzenpriester des «freien Marktes» in den Gewerbe- und Wirteverbänden ihre Mitglieder wieder unter den schützenden Schirm des regulierten Marktes schlüpfen lassen.

Übrigens: Dass es in der Schweiz überhaupt noch einen regulierten Strommarkt für Haushalte gibt, ist ein Erfolg der Gewerkschaften: Am 22. September 2002 lehnte das Volk die vollständige Liberalisierung des Strommarktes ab. Die Gewerkschaften hatten das Referendum ergriffen. Die damalige SP-Bundeshausfraktion musste zuerst von der Parteibasis zur Besinnung gebracht werden. Die Gewerkschaften lehnen die Liberalisierung weiterhin ab.

BAUSTELLE & BUS

In vielen Gebieten der EU sind ehemalige staatliche oder staatlich subventionierte Angebote im öffentlichen Verkehr verschwunden. Sie sind Opfer des neoliberalen Privatisierungswahns. Aber dort, wo zu wenig Profit winkt, gibt es auch keine privaten Angebote. Dumpingwettbewerb auf gewinnbringenden Strecken zulasten der Staatsbahnen hat dazu geführt, dass Nebenlinien nicht mehr quersubventioniert werden können und geschlossen werden. Solche Zustände wollen die Gewerkschaften nicht. Und pochen darum auf «Kooperations- statt Marktzugangsabkommen». Eine Liberalisierung des internationalen Schienen-Personenverkehrs lehnen sie ab.

STURE ARBEITGEBER

Die Gewerkschaften lassen nicht am Lohnschutz rütteln. Und den Service public verteidigen sie, weil er im Interesse der Mehrheit in diesem Land ist. Doch wie diese ­Errungenschaften geschützt werden können, darüber diskutieren sie gerne. Beziehungsweise würden sie. Sie haben mehrere detaillierte Vorschläge gemacht, wie trotz Zugeständnissen an die EU die rote Linie «Schweizer Löhne für Arbeit in der Schweiz» nicht überschritten wird. Zum Beispiel mit Verbesserungen im Inland bei der Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen und bei der Regulierung der Temporärarbeit. Doch die Arbeitgeberverbände weigern sich, ernsthafte Gespräche zu führen.

SGB-Chef Pierre-Yves Maillard macht jetzt Druck beim Bundesrat. Die nächsten Tage und Wochen werden zeigen, ob die Lernkurve beim Bundesrat und bei den Arbeitgeberverbänden doch noch entscheidend steigt.


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