EU-Abkommen 2.0: Bundesrat und Arbeitgeber gefährden Schweizer Lohnschutz

Nichts gelernt und alles schon wieder vergessen?

Clemens Studer

Man kann es sich kaum vorstellen, und trotzdem ist es so: Die Marktradikalen in der Schweiz und in der EU greifen den Schweizer Lohnschutz erneut an. Und wieder versuchen sie es über ein «institutionelles Abkommen».

KLARE ANSAGE: Die Gewerkschaften dulden kein Abkommen zwischen der Schweiz und der EU, in dem
der Schweizer Lohnschutz nicht vollumfänglich gesichert ist. (Foto: Keystone)

Kurzer Rückblick: Sieben Jahre lang verhandel­te die Schweiz mit der EU über ein Rahmenabkommen, das die bisherigen bilateralen Abkommen konsolidieren sollte und den «auto­nomen Nachvollzug» institutionalisieren. Das war ein eher zähes Unterfangen. Dann wurde im Herbst 2017 der biegsame Ignazio Cassis von der FDP dank der SVP Bundesrat. Mit Unterstützung des marktgläubigen Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) aus dem Wirtschaftsdepartement überschritt Aussenminister Cassis dann – ganz im Sinne der SVP – die vom Gesamtbundesrat vorgege­be­nen roten Verhandlungslinien. Er wollte den Schweizer Lohnschutz opfern und die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit gleich mit. Das ist ein alter Traum der Rechtsparteien und der Wirtschaftsverbände. Doch Cassis hatte die Rechnung ohne den damaligen SGB-Präsidenten Paul Rechsteiner gemacht. Dieser bemerkte den rechtsbürgerlichen Trick, zog im Sommer 2019 die Notbremse und verweigerte weitere Verhandlungen. 

Die Gewerkschafter fordern jetzt echte Verhandlungen vom Bundesrat.

AUFGEFLOGEN, ABGESTÜRZT

Eilige Rettungsversuche unter dem damaligen Volkswirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann und eine Propaganda-Offensive von Wirtschaftsverbänden, den rechten Grünen von der GLP und ein paar Rechtssozialdemokraten gegen die Gewerkschaften liefen zwar nicht medial, aber real ins Leere. Nicht zuletzt, weil die Schweizer Gewerkschaften von den euro­päischen in ihrem Kampf für den Lohnschutz unterstützt wurden und werden. Und ebenso von sozialen Kräften im EU-Parlament (work berichtete). 

NEUER ANLAUF, ALTE FEHLER

Seither scheinen die Marktradikalen hüben und drüben nichts gelernt zu haben. Der SGB jedenfalls ist «sehr besorgt» um die Sondierungsgespräche auf technischer Ebene. Und das beschreibt den aktuellen Zustand noch zurückhaltend. Denn die Bundesverwaltung hat in den Gesprächen einem Abbau des Lohnschutzes und des Service public zugestimmt: Arbeitnehmende, die vom Ausland in die Schweiz entsandt werden, würden keine Schweizer Spesen mehr erhalten, und die Sanktionsinstrumente der Kaution und der Dienstleistungssperre würden ihre Wirkung verlieren. Und der Lohnschutz dürfte die Schweiz zwar dem Wortlaut nach wie bisher kontrollieren, aber er stünde unter dem Generalverdacht, den Marktzugang der Firmen zu behindern. Und dieser würde künftig stärker gewichtet als das Prinzip «Schweizer Löhne für Arbeit in der Schweiz». Allfällige ­innenpolitische Sicherungsmassnahmen, die unabhängig von den Verhandlungen mit der EU beschlossen werden könnten, scheiterten bisher am Widerstand der Arbeitgeberverbände.

ROTE LINIE BLEIBT

Die Gewerkschaften fordern vom Bundesrat jetzt echte Verhandlungen mit der EU. Der hat vergangene Woche beschlossen, ein Verhandlungsmandat mit der EU auszuarbeiten. Wenn er sich dabei auf die Ergebnisse der «Gespräche auf technischer Ebene» stützt, ist der Schweizer Lohnschutz nicht mehr gesichert. Der Grundsatz «Schweizer Löhne für Arbeit in der Schweiz» war, ist und bleibt die rote ­Linie der Gewerkschaften. Wird diese überschritten, hat ein Abkommen zu Recht keine Chance in einer Volksabstimmung. Unia-­Präsidentin Vania Alleva bringt es so auf den Punkt: «Wir Gewerkschaften stehen ein für die Personenfreizügigkeit, für die Nichtdiskriminierung und Gleichbehandlung der Arbeitnehmenden unabhängig von ihrer Herkunft, weil nur gleiche Rechte für alle auch starke Rechte für alle sind. Das ist nur mit wirksamen flankierenden Massnahmen für den Lohn­schutz möglich.»


Angriff 1: Auf die Spesen

Arbeiterinnen und Arbeiter, die von EU-Firmen in die Schweiz geschickt werden, sollen nur noch die Spesen erhalten, die sie im Herkunftsland ihrer Firma zugute hätten. Das öffnet Lohndumping Tür und Tor. Eine kleine Rechnung: Ein Arbeitnehmender isst einen Monat lang über Mittag auswärts (21 Tage) und fährt pro Woche 200 Kilometer mit dem Privatwagen. Laut dem Bau-LMV erhält er 336 Franken Essensspesen und 560 Franken Autospesen. Total 896 Franken. Andere Verträge sind grosszügiger: im GAV Gebäudehülle wären es 1253 Franken und im Untertagebau 1920 Franken. Dazu kommen die Unterkunftsspesen. Hier sind die realen Kosten geschuldet, oder der Arbeitgeber muss eine Unterkunft stellen. Gemäss Seco-Weisung zum internationalen Lohnvergleich ist eine Übernachtung inklusive Frühstück mit 150 Franken und ein Nachtessen mit 20 Franken einzusetzen. Macht für 21 Tage 3570 Franken. 

Wettbewerbsverzerrung: Wenn Arbeitgeber- und EU-Vertreter da von «Peanuts», also Erdnüsschen, reden, haben sie entweder einen gigantischen Verbrauch – oder schlicht keine Ahnung von den Haushaltsbudgets der meisten Menschen in diesem Land. Und wenn entsandte Lohnabhängige in der Schweiz nur noch – zum Beispiel – bulgarische Spesen erhalten, müssen sie offiziell definitiv in sehr prekären Verhältnissen leben. Arbeitgeber-Funktionären dürfte das aus ideologischen Gründen egal sein. Weniger egal wären hingegen ihren Mitgliedsfirmen die dadurch entstehenden Wettbewerbsverzerrungen.


Angriff 2: Auf Bahnen und Busse

In vielen Gebieten der EU sind ehemalige staatliche oder staatlich subventionierte Angebote verschwunden. Privatisierungswahn. Und dort, wo zu wenig Profit winkt, gibt es auch keine privaten Angebote. Dumpingwettbewerb auf gewinnbringenden Strecken zulasten der Staatsbahnen hat dazu geführt, dass Nebenlinien nicht mehr quersubventioniert werden können und geschlossen werden. Solche Zustände drohen auch in der Schweiz, zumindest die «Sondiergespräche» der Bundesverwaltung bieten dies der EU an. Sogenannte Liberalisierungen gefährden den Service public. Das Schweizer Volk hat sich in Abstimmungen immer wieder zu diesem bekannt. 

Gescheiterte EU-Liberalisierung: Die Menschen in diesem Land lehnen deshalb eine ÖV-Liberalisierung ab, wie sie von Teilen der EU-Kommission gefordert und von der Schweizer Bundesverwaltung offensichtlich zumindest in Kauf genommen wird. Auch dabei geht es den Gewerkschaften nicht um nationalistische Abschottung. Sondern sie befinden sich in Übereinstimmung mit den europäischen Arbeitnehmerorganisationen. Gerhard Tauchner ist der oberste Eisenbahner-Gewerkschafter Österreichs. Sein Fazit ist illusionslos und knallhart: «Die EU-Eisenbahnliberalisierung ist offensichtlich gescheitert.»


Angriff 3: Auf den Strom

Die vollständige Liberalisierung des Strommarktes ist ein alter Wunschtraum der Stromindustrie und ein Fetisch der Marktradikalen. Via EU-Abkommen möchten sie diese jetzt auch in der Schweiz durchsetzen. Dabei ist es noch kaum ein Jahr her, als die lautesten Lautsprecher der Strommarktliberalisierung ganz kleinlaut wurden: Der Gewerbeverband wollte seine von ihm in den «freien Markt» getriebenen Mitglieder wieder unter den Schutzschirm des regulierten Marktes stellen. Was war passiert? 

Explodierende Preise: Die Preise im gepriesenen freien Markt waren explodiert. Die «Einmal frei, immer frei»-Jubler hatten existenzbedrohende Rechnungen im Haus. Den work-Hintergrund zum Strompreis-System gibt’s hier. Dass es in der Schweiz überhaupt noch einen regulierten Strommarkt für Haushalte gibt, ist ein Erfolg der Gewerkschaften: Am 22. September 2002 lehnte das Volk die vollständige Liberalisierung des Strommarktes ab. Die Gewerkschaften hatten das Referendum ergriffen. Die damalige SP-Bundeshausfraktion musste zuerst von der Parteibasis zur Besinnung gebracht werden.


DORIS FIALA: Verhöhnt mit ihren Aussagen einmal mehr die Lohnabhängigen.  (Foto: Keystone)

Frech, frecher, Fiala: Für die FDP-Frau sind 1000 Franken und mehr eine «Lunchbox»

Wie wenig die bürgerlichen Parteien der Schutz der Schweizer Löhne kümmert, bringt die abtretende FDP-Nationalrätin Doris Fiala auf den Punkt.

Die Haltung der Gewerkschaften ist ebenso einfach wie klar: Wer in der Schweiz arbeitet, muss einen Schweizer Lohn verdienen. Und ebenso stringent ist die gewerkschaftliche Position zu den Verhandlungen mit der EU über institutionelle Abkommen: Ja zu Rahmenabkommen, aber zu solchen, die Schweizer Löhne effizient schützen und ermöglichen, diese noch effizienter zu schützen.

Daran hat sich nichts geändert. Das ärgert bürgerliche Politikerinnen und Politiker ungemein. Weil sie ja nicht öffentlich zugeben möchten, dass ihren Sponsoren ein schwacher Lohnschutz noch so recht wäre. Darum versuchen sie, die Gewerkschaften als rückständige Truppen darzustellen, die einfach nicht begreifen wollen, dass der Lohnschutz ja bereits gesichert sei. 

FRECH WIE FIALA

Als erste wieder in das Spielchen eingestiegen ist die abtretende Zürcher FDP-Nationalrätin Doris Fiala, seit Jahren mit Wohnsitz im schönen und teuren Engadin. Auf Tele Züri erklärte sie dem staunenden Lokal-TV-Publikum: «Nein, es geht nicht um den Lohnschutz. Am Schluss geht’s euch (gemeint sind die Gewerkschaften, Anm. d. Red.) um Lunchpakete.» Der Duden definiert Lunchpaket als «kleines Paket mit Verpflegung für die Teilnehmer an einem Ausflug o. Ä.». Mit «Lunchpaket» meint FDP-Frau Fiala in Tat und Wahrheit aber 1000 Franken und mehr pro Monat, die Lohnabhängige weniger ausbezahlt bekämen, würden die Vorstellungen von Arbeitgebern und EU-Delegation umgesetzt. 1000 Franken – für Fiala ein «kleines Verpflegungspaket». Für die Mehrheit in diesem Land viel Geld, sehr viel Geld. 

NACHTEINKAUF

Verhaltensoriginelle Auftritte begleiten Doris Fialas politische Karriere seit je. Schon fast Kult sind ihre Ansichten zur Arbeitszeit von Verkäuferinnen und Verkäufern. Die sollen gefälligst rund um die Uhr und sieben Tage die Woche ran. 2012 war sie als «eine jener urbanen Persönlichkeiten, die auch nachts einkaufen gehen könnten» für eine entsprechende Initiative. Dieses Einkaufserlebnis wollte dar­aufhin eine Gruppe Verkäuferinnen Fiala er­möglichen und machte sich mit Kleidern und Lebensmitteln morgens um 1 Uhr auf zu ihrer Wohnung. Fiala war nicht amüsiert und sagte: «Ich bin schon im Pyjama, im Bett und habe geschlafen.» Sie riet den Verkäuferinnen, sich doch einen anderen Job zu suchen, wenn sie nachts nicht arbeiten wollten. Ein Lunchpaket bot sie ihnen nicht an. Das Video ist weiterhin online und lohnt sich. Genauso wie ein genauer Blick, wenn Bürgerliche von gewährleistetem Lohnschutz reden.


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