Editorial

Mehr Meer ist nicht immer mehr

Anne-Sophie Zbinden

Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Knietief steht er im Wasser, in Anzug und Krawatte, und spricht zur 26. Weltklimakonferenz: Die Rede aus dem Pazifik von Simon Kofe, Aussenminister des Südseestaates Tuvalu, ging 2021 um die Welt. Seine Botschaft: Wir gehen unter, aber alle anderen auch. Jetzt, kurz vor der 28. Weltklimakonferenz, hat Tuvalu einen Klimaasyl-­Vertrag mit Austra­lien unterzeichnet. Australien bietet erstmals einem anderen Staat aufgrund der Bedrohung durch den Klimawandel Aufenthalts- oder Staatsbürgerrechte an.

WINTER ADE. Der höchste Punkt von Tuvalu liegt 5 Meter über Meer, derjenige der Schweiz auf 4634. Dass wir freie Sicht aufs Mittelmeer erhalten, ist daher eher unwahrscheinlich. Mit den tuvalisch weissen Stränden können wir ebenso wenig mithalten. In Sachen Auswirkungen der Klimakrise hin­gegen schon. Die Schweiz ist besonders stark betroffen. Die Durchschnittstemperatur hat sich bereits um rund 2 Grad Celsius erhöht – gut doppelt so viel wie im welt­weiten Durchschnitt. Die Folgen: häufigere Hitzewellen, trockene Sommer, intensivere Starkniederschläge sowie schneearme ­Winter.

DAS TUT WEH. Die Skigebiete behelfen sich mit Kunstschnee und exorbitanten Preisen. Ein Tagespass kostet schon mal an die 90 Franken. Exklusive Skiausrüstung und Mittag­essen. Doch der oberste Seilbähnler Berno Stoffel relativiert: Für 3000 Franken sei eine Woche Skiferien für eine vierköpfige Familie zu haben, sagte er im «Blick». Als ob alle Familien einfach so mal 3000 Franken exklusive Ausrüstung hinblättern könnten für Ferien. Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik wären auch für Stoffel frei zugänglich: Die meisten Arbeitnehmenden verdienen netto zwischen 3000 und 6000 Franken. Bei über 13 Prozent der Frauen sind es zwischen 2000 und 3000 Franken netto (bei 3,2 Prozent der Männer). Sie alle müssen ihre ­Lebenskosten bezahlen, obwohl alles teurer wird: Lebensmittel, Mieten, Krankenkassen (im Schnitt plus 8,6 Prozent).

Wenigstens halten viele Löhne wieder mit der Teuerung mit. In ihren grössten Gewerbeverträgen erreichte die Unia gar eine Erhöhung über die Teuerung hinaus. Zum Beispiel: plus 120 Franken in der Gebäudetechnik, in der Elektrobranche sind es 2,2 Prozent mehr. Und plus 2,9 bis 3,3 Prozent bei Coop für Löhne bis 4800 Franken. Aber: Die bisherigen Abschlüsse können die Reallohneinbussen der letzten zwei Jahre nicht vollständig ausgleichen.

ALLE JAHRE WIEDER. Für die Reichsten der Schweiz sind das nur Peanuts. 2650 Millionen Mal könnten sie mit ihren insgesamt 796 Millionen Franken in die Skiferien fahren. Das Vermögen der Reichsten hat die «Bilanz», wie alle Jahre wieder, in ihrer goldenen Ausgabe berechnet. Damit reihen sie sich ein in die Reichsten dieser Erde. Und tragen damit nicht nur zur Ungleichheit bei, sondern auch überproportional zur Klimakrise. Das wiederum hat, wie alle Jahre wieder, die britische Nichtregierungsorganisation Oxfam berechnet: Die reichsten 10 Prozent sind für die Hälfte des globalen CO2-Ausstosses verantwortlich. Tuvalu lässt grüssen.

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