Fünf Jahre lang war Gastro-Mitarbeiter Selim Öztürk seinem Chef ausgeliefert

«Ich hatte das Gefühl: Jetzt bist du kein Mensch mehr»

Darija Knežević

Selim Öztürk* (41) wurde von seinem Chef schamlos ausgenutzt. Dieser liess ihn fast ­pausenlos in seinem ­Restaurant schuften und verdonnerte ihn auch noch dazu, sein Haus zu putzen.

UNMENSCHLICH: Wie Selim Öztürk von seinem Chef behandelt wurde, ist unterste Schublade. Sein Fall zeigt sogar Indizien für Menschenhandel. (Foto: Matthias Luggen)

Über seine Vergangenheit zu sprechen kostet Selim Öztürk* (41) viel Mut. Er ist seit 10 Jahren in der Schweiz, die Hälfte davon verbrachte er in einem kleinen Dorf im Kanton Bern und arbeitete in einem Restaurant. work trifft Öztürk in einer Bar in Bern. Während sich andere ausgelassen bei einem Feierabendbier unterhalten, bleibt Öztürk ernst. Er bestellt einen Tee. «Zur Beruhigung», meint er. Und trotzdem: es tue ihm gut, darüber zu sprechen. «Zu lange habe ich geschwiegen.»
Der Weg von Öztürk in die Schweiz war ein langer. Der heute 41jährige ist in der Türkei geboren und musste bereits im Kindesalter aus seinem Heimatland fliehen. Die Familie zog nach Holland, wo Öztürk die Schule besuchte und sich später auch einbürgern liess. Mit 31 Jahren stand Öztürk vor vielen persönlichen und auch beruflichen Schwierigkeiten, weshalb er sich entschied, in die Schweiz auszuwandern. Denn hier hatte er Familie und versprach sich eine bessere Zukunft.

«Angestellt war ich im Restaurant, aber ich habe fast alles für ihn gemacht.»

DAS ERSTE WARNZEICHEN

Bei seiner Ankunft konnte Öztürk ein paar Brocken Hochdeutsch, «doch das Schweizerdeutsch habe ich komplett unterschätzt», gesteht er. Er jobbte erst in einer Pizzeria, später in der Reinigung. Über einen Bekannten kam er anschliessend zu einer Arbeitsstelle in einem Gastronomiebetrieb, abgelegen in einem kleinen Dorf im Kanton Bern. Er war im Restaurant als Kellner angestellt, im gleichen Gebäude erhielt er ein Zimmer zum Wohnen. «Während der Probezeit von sechs Monaten erhielt ich keinen Arbeitsvertrag», sagt er. Das war ein erstes Warnzeichen. Doch Öztürk war einfach froh um einen Job und ein Dach über dem Kopf.

«ICH KANNTE MEINE RECHTE NICHT»

«Angestellt war ich im Restaurant, aber eigentlich habe ich fast alles für meinen Chef gemacht. Ich habe mich um seinen Garten gekümmert, seine Wände gestrichen, sein Haus geputzt und bei einem Umbau sogar auf der Baustelle ausgeholfen», sagt der 41jährige und erzählt weiter: «Ich hatte praktisch keine Freizeit. Wenn ich offiziell freihatte, wurde ich immer wieder aus meinem Zimmer geholt, um im Betrieb auszuhelfen.» Weil er fast jeden Tag arbeitete, verliess er das Dorf selten.

Dann kam die Sache mit dem Lohn hinzu: «Den Lohn gab es nur bar auf die Hand, bei den Arbeitsstunden wurde gepfuscht. Gewehrt haben sich die Angestellten nicht, weil sie Angst vor dem Chef hatten.» 18 Franken verdiente Öztürk netto pro Stunde, weniger als der im GAV festgehaltene Mindestlohn.

Wie belastend es noch heute für Öztürk ist, darüber zu sprechen, sieht man ihm an. Während des Gesprächs fängt er nervös an, in seinem Tee zu rühren und den Teebeutel auseinanderzupflücken. «Die Zeit in dem Restaurant hat mich psychisch enorm belastet. Ich hatte keine Freunde, kein Umfeld, keine Freude am Leben.»

Wenn er heute über die fünf Jahre in dem Gastrobetrieb erzählt, fragen alle, warum er den Job nicht aufgegeben habe. «Ich kannte meine Rechte nicht. Erst wollte ich nicht zulassen, dass mich der Chef rausmobbt. Später hatte ich schlicht keine Kraft mehr, weil ich psychisch ausgebrannt war.» Und er hatte Angst, ob er überhaupt einen anderen Job und eine andere Unterkunft fände.

«Wenn ich offiziell freihatte, wurde ich immer wieder aus meinem Zimmer geholt.»

BETRUNKEN AM PÖBELN

Weil Öztürk einige Zeit brauchte, um Schweizerdeutsch zu verstehen, war ihm nicht bewusst, wie sein Chef über ihn sprach. «Schon gegen Mittag war er betrunken und pöbelte die Belegschaft an. Während wir alle hart arbeiteten, lachte er mit seinen Stammkunden über rassistische Türkenwitze.» Er habe ihn vorgeführt wie ein Zirkuspferd.

Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie spitzte sich die Situation weiter zu. Auf Anordnung des Bundesrates mussten die Restaurants schliessen. «Ich hatte ja nur ein Zimmer und deshalb meinen Chef um Erlaubnis gefragt, mir in der Restaurantküche Essen zuzubereiten. Er verbot es mir.» In seinem Zimmer musste er sich wochenlang von Mikrowellenessen ernähren. Sein Lohn schrumpfte auf 500 Franken im Monat. «Es waren katastrophale Zustände. Ich hatte wirklich das Gefühl: Jetzt bist du kein Mensch mehr.»

Wenige Monate nach Ausbruch der Pandemie entliess der Chef einige Angestellte, Öztürk erhielt die Kündigung. «Das war meine Rettung!» Im nachhinein macht er sich selbst Vorwürfe: «Dass ich mich fünf Jahre lang nicht gewehrt oder mir Hilfe geholt habe, war mein eigener Fehler.» Doch die Situation erschien ihm aussichtslos. Heute arbeitet Öztürk als Logistiker in Biel. Die Zeit der Ausbeutung ist zwar vorbei, aber noch nicht verdaut.

*Name geändert

Schweizer Recht: Das sind die Indizien für Menschenhandel

Auch das Schweizer Rechtssystem muss gegen Menschenhandel kämpfen (siehe Interview unten). Doch wann handelt es sich um Menschenhandel? Nach internationaler Definition müssen drei Merkmale erfüllt sein:

1. Eine aktive Anwerbung, Beförderung und Beherbergung von Personen.
2. Androhungen oder die Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt.
3. Es wird das Ziel der sexuellen ­Ausbeutung, der Arbeitsausbeutung oder ­von Organentnahmen verfolgt.

DIE UNIA SETZT SICH EIN: Um diese Straftat hierzulande zu bekämpfen, wurde der dritte nationale Aktionsplan gegen ­Menschenhandel verabschiedet. Auch die Unia setzt sich gegen dieses Verbrechen ein und veröffentlichte erst kürzlich eine ausführliche Broschüre zum Thema. Zu finden hier.


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