Editorial

Was einmal gepostet …

Anne-Sophie Zbinden

Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Es sind verstörende Bilder, die uns fast in Echtzeit nach dem grausamen Angriff der Hamas aus Israel und dem Gazastreifen erreichen. Sie zeugen von herzzerreissendem Leid. Gleichzeitig sind wilde Diskussionen dar­über entbrannt, welche Bilder echt sind, welche fake und ob künstliche Intelligenz (KI) sich selbst als solche entlarven kann. Ob echt oder nicht: die Macht der Bilder ist enorm. Bilder berühren unsere Netzhaut, gelangen ins Gehirn, gehen in seinen Windungen eigene Wege und wirken so mehr oder weniger bewusst auf unsere Sicht der Welt ein. Um Bilder jenseits des emotionalen Anklangs zu verstehen, braucht es viel mehr als 1000 Worte. Wer publiziert welche Bilder zu welchem Zweck an welchem Ort? Die über 180jährige Geschichte der Fotografie hat immer wieder gezeigt, dass sich Menschen dieser Macht bedienen und Bilder auch mal zu ihren Zwecken zurechtbiegen, nicht erst im KI-Zeitalter.

Wie beliebig sich Bilder dehnen lassen, zeigt das aktuelle SVP-Parteiprogramm.

UNTERBELICHTET. Auf dieser Bild-Klaviatur spielen die SVP und ihre PR-Leute besonders gut. Plump-plakative Bilder, aus dem Zusammenhang gerissen, mit weit weniger als 1000 Worten zur Erklärung. So geschehen in der letzten SVP-Zwangszusendung vor den eidgenössischen Wahlen. Bewusste Verfälschung und Diffamierung von politischen Gegnerinnen mit Hilfe von künstlicher Intelligenz, abgetan als Witz. So gemacht von SVP-Glarner vs. Grünen-Arslan. Glarner musste das Fake-Video zwar per Gerichtsbeschluss löschen. Doch das Unheil ist angerichtet: was einmal gepostet wurde, kann nicht mehr vollständig zurückgenommen werden.

SCHNELLSCHUSS. Wie beliebig sich Bilder ­dehnen lassen, zeigt das aktuelle SVP-Parteiprogramm. Auf der Titelseite sehen wir eine Familie – Vater, Mutter, zwei Kids –, die armeschwingend ins Abendrot hüpft, in der Ferne sanfte Hügelzüge. Dasselbe Foto verwendet ­ein Anbieter für Hypnosekurse für Paare und Familien. Oder die Zeitung «The Indian Express» für einen Artikel über den ungenügenden Vaterschaftsurlaub. Oder eine Website für RNA-basierte Nahrungsergänzungsmittel. Alle mit der gleichen «Happy Family», wie sie beim Foto-Anbieter genannt wird. Ob es sich dabei um eine Schweizer Familie im Schweizer Hügelland handelt, ist nicht ersichtlich.

GESTOCHEN SCHARF. Ganz eindeutig verorten lassen sich hingegen die Bilder vom Bührer-­Areal in Biel. Es sind (echte) Fotos der wohl einzigen original erhaltenen Saisonnierbaracken der Schweiz. Ein Denkmal der Schande. Bis zu hundert Baubüezer lebten dort auf engstem Raum zusammen, schliefen in ­dürftig geheizten Bretterverschlägen, teilten sich minimale sanitäre Einrichtungen. In den strengen Hausregeln stand, der Arbeitgeber stelle eine «bequeme und hygienische Unterkunft zur Ver­fügung». Dies alles ist dank Alvaro Bizzarris Film «Die Kehrseite der Medaille» bekannt. Er besuchte 1974 seine Landsleute in ihren Unterkünften in Biel. Und geht hart mit der Schweiz ins Gericht. Auf dem Buckel der Saisonniers baue sich die Schweiz ihren Reichtum: «Der Saison­arbeiter belastet in keiner Weise die Infrastruktur des Landes, nimmt niemandem Platz weg. Die Frau gebiert alleine in ihrem Dorf, der Sohn kann seinen Vater nur an Weihnachten sehen. Der Saisonnier organisiert sich nicht, er protestiert nicht, und wenn er es tut, genügt es, ihm die Arbeitsbewilligung nicht zu verlängern.» ­

Das sind starke Bilder mit Kontext, in mehr als 1000 Worten.

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