Jean Ziegler ‒ la suisse existe

Rückweisung in die Hölle

Ines Wallrodt*

Jean Ziegler

Ali Reza war ein schüchterner, höflicher siebzehnjähriger Junge aus Afghanistan. Ihm war auf wundersame Weise die Flucht über Iran und die Türkei auf die griechische Insel Lesbos gelungen. Im Lager Moria und dann in Kara Tepe erlebte er die Hölle. In den Auffanglagern auf der Insel im Ägäischen Meer herrscht Unterernährung, Polizeiterror und totale Hoffnungslosigkeit. Ali Reza wurde von gewalttätigen griechischen Polizisten erpresst, gefoltert und sexuell missbraucht. Ihm gelang schliesslich die Flucht auf den Kontinent und später über die Balkanroute in die Schweiz. In Genf fand er Aufnahme, medizinische Betreuung und Schulbildung. Im November 2022 wurde sein Asylgesuch abgelehnt. Zuerst durch einen dummen Bürokraten in Bern. Dann durch die Richter des Bundesverwaltungsgerichtes in St. Gallen. Das Verdikt: gewaltsame Rückführung ins griechische Lager. Berner Asylbeamte und St. Galler Richter ignorierten kaltherzig die dringenden Warnungen der Ärzte und Betreuenden: diese hatten vor der Gefahr eines Suizids gewarnt und das traumatische Leid des jungen Afghanen beschrieben. Am frühen Morgen des 30. November 2022 sprang Ali Reza von einer Brücke. Er tötete sich selbst. Er konnte die Rückweisung in die Hölle nicht ertragen.

Ali Reza musste sterben, weil ihm die Schweiz kein Asyl gewährte.

KALTE KELLER-SUTTER. Die Schweiz hat das Abkommen von Dublin unterschrieben.
Dieser Staatsvertrag von 1990, revidiert 2003, sieht vor, dass ein Flüchtling sein Asylgesuch nur in einem einzigen Staat einreichen darf. Meist nämlich dort, wo er europäischen Boden betritt. Versucht er mehrmals, ein Gesuch zu deponieren, kann er in sein Erstland zurückgewiesen werden. Eine Ausnahme besteht: wenn das Erstland keine Rechtssicherheit bietet, darf der Flüchtling nicht rückgeführt werden.

Alis Rückführung nach Lesbos wurde von der da-
maligen Justizministerin Karin Keller-Sutter angeordnet. Ihre Praxis stellte einen radikalen Bruch dar mit jener ihrer Vorgängerin. Bundesrätin Simonetta Sommaruga, unterstützt von ihrem klugen Staats­sekretär Mario Gattiker, hatte sich systematisch geweigert, minderjährige Asylsuchende nach Griechenland zurückzuschicken.

BRUTALE FOLTER. Samstag, der 4. Februar 2023: Hunderte Menschen demonstrieren auf dem Bundesplatz in Bern. Ihre Forderung: «Keine Rückweisung von Asylsuchenden nach Kroatien!» Kroatien ist seit 2013 EU-Mitglied. Seine Grenzpolizei «schützt» die Ostgrenze der Festung Europa. Die kroatische Grenzpolizei zeichnet sich aus durch ihre extreme Brutalität. Der Grüne Erik Marquardt ist deutscher ­EU-Abgeordneter und Präsident der Untersuchungskommission des EU-Parlaments. Er hat eine Liste der kroatischen Verbrechen erstellt: Wem es gelingt, durch den Stacheldrahtzaun an der serbisch-kroatischen Grenze zu gelangen, wird häufig von den kroatischen Schlägertruppen gefoltert und zusammengeschlagen. Die Polizisten reissen den Flüchtlingen mitten im Winter die Kleider vom Leib oder, schlimmer noch, die Fingernägel aus.

WO IST DIE HOFFNUNG? Karin Keller-Sutter ist nicht mehr Justizministerin. An ihrer Stelle ist jetzt Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider verantwortlich für die Flüchtlingspolitik. Sie hat Empathie und Vernunft. Sie verspricht, keine Asylsuchenden in die Hölle von Kroatien oder Lesbos zurückzuweisen.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im ­Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam letzten Frühling als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.

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