Streiks in Deutschland: Gegen miese Löhne im öffentlichen Dienst

«Pflegt euch ins Knie! 200 Euro – jetzt oder nie»

Daniel Behruzi

Am 27. März brachten die Gewerkschaften Verdi und EVG mit einem Mega-Streik an Flughäfen sowie im öffentlichen Nah- und Fernverkehr Deutschland zum Stillstand – ­ der vorläufige Höhepunkt einer mächtigen Protestwelle im Land.

GENUG DER WARMEN WORTE: Mit Witz und Entschlossenheit wehren sich auch Auszubildende und junge Berufsleute gegen die Hinhaltephrasen der Arbeitgeber. (Foto: Keystone)

«Es ist einfach Druck auf dem Kessel, weil die Beschäftigten es leid sind, sich jeden Tag mit warmen Worten abspeisen zu lassen, während die Arbeitsbedingungen immer schlechter werden und viele Stellen unbesetzt sind», so der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke zum Verkehrsstreik am 27. März. «Alle, wirklich alle Mitglieder, die wir heute zum Arbeitskampf aufgerufen haben, beteiligen sich an diesem Streik.» Im ganzen Land standen Züge und Busse still, Flugzeuge blieben am Boden. Von der Bahn­gewerkschaft EVG nahmen etwa 30 000, von der Dienstleistungs­gewerkschaft Verdi 120 000 Mitglieder am ganztägigen Warnstreik teil – dem grössten seit Jahren.

In Frankfurt am Main streikte am 22. März das Team einer katholischen Kindertagesstätte – zum ersten Mal in der Geschichte.

ALLES WIRD TEURER

Es ist vor allem die hohe Inflation, die die Menschen auf die Strasse treibt. Um 6,9 Prozent stiegen die Preise 2022. Für dieses Jahr werden erneut mehr als sechs Prozent erwartet. «Wir können uns von unserem Lohn immer weniger leisten, das geht einfach nicht mehr», sagt die Gastro-Mitarbei­terin Ella Franz aus dem Studie­rendenwerk in Bochum, die mit vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen zum Warnstreik gekommen ist. «Gerade die Leute in den unteren Entgeltgruppen machen sich Sorgen. Dass alles teurer wird, nur die Löhne nicht entsprechend steigen sollen, ist total unfair», findet die Erzieherin Katrin Sawitzki. Um besonders Beschäftigte mit geringen Einkommen zu entlasten, fordert Verdi neben 10,5 Prozent Lohnerhöhung auch einen Mindestbetrag von mindestens 500 Euro mehr im Monat.

Auch Auszubildende und junge Berufsleute beteiligen sich in grosser Zahl an den Warnstreiks, um ihre Forderung nach 200 Euro monatlich mehr für ­Lernende durchzusetzen. «Pflegt euch ins Knie! 200 Euro – jetzt oder nie», heisst es auf einem Transparent, das angehende Pflegende in Kassel in die Höhe halten. «Wir sind die Zukunft, die ihr dringend braucht», betont Merle Käfer, die an der Uniklinik Mannheim eine Ausbildung zur medizinisch-technischen Radiologie- assistentin macht und dort bei der «Streikparade» mitläuft. «Ohne eine ordentliche Bezahlung gibt es bald niemanden mehr, der im öffentlichen Dienst arbeiten will.»

GEWERKSCHAFTEN ERSTARKEN

Angesichts Tausender offener Stellen müssten in der Tat die Arbeitgeber selbst ein Interesse daran haben, die Jobs im öffentlichen Dienst attraktiver zu machen. Doch bei den Verhandlungen, die bei Redaktionsschluss am 29. März noch andauerten, verweigern sie bislang auch nur die Sicherung der Realeinkommen. Stattdessen werfen sie den Gewerkschaften vor, die Streiks seien «unverhältnismässig» und «überzogen». Teile der Medien und der Unternehmerverbände fordern gar eine Einschränkung des Streikrechts.

Falls das die Beschäftigten einschüchtern soll, klappt es nicht. Im Gegenteil. Selbst Angestellte kirchlicher Einrichtungen, die mit Abmahnung bedroht werden, beteiligen sich an Warnstreiks und Demonstrationen. In Frankfurt am Main streikte am 22. März das Team einer katholischen Kindertagesstätte – zum ersten Mal in der Geschichte.

All das trägt dazu bei, dass die Gewerkschaften stärker werden. «Trotz all des Trommelfeuers ­gegen uns verzeichnen wir seit Anfang des Jahres 70 000 neue Mitglieder», bilanziert der Verdi-Vorsitzende Werneke. «Das ist der stärkste Mitgliederanstieg seit unserer Gründung vor mehr als 20 Jahren.»


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