Ernes Europa

EU-Mindestlohnrichtlinie II: Aus dem Brexit gelernt

Roland Erne

Roland Erne war Chemielaborant und GBI-Jugendsekretär. Seit 2017 ist er Professor für Europäische Integration und Arbeitsbeziehungen am University College Dublin.

In den letzten Monaten mussten sich Lobbyisten für US-Kapitalinteressen in Brüssel wütenden Fragen von US-Spitzenmanagern stellen: Wie konnten Europaparlament und Ministerrat ein EU-Gesetz verabschieden, laut dem
80 Prozent aller Beschäftigten einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) haben sollten? Haben die rechten Parteien keine Mehrheit mehr im Europaparlament? Sind in den meisten EU-Ländern nicht mehr rechte Regierungen an der Macht? Arbeiten die meisten Lobbyistinnen und Lobbyisten in Brüssel nicht mehr für Kapitalinteressen?

Künftig soll für 80 Prozent aller in der EU Beschäftigten ein GAV gelten.

NICHT VERWÄSSERT. Auch der EU-skep­tische Politikwissenschafter Martin ­Höpner war davon überzeugt, dass der EU-Kommissionsentwurf für eine Richtlinie über angemessene Mindestlöhne, wenn überhaupt, nur stark verwässert angenommen wird. Doch wurde die Richtlinie Gesetz, und zwar in einer Fassung, die weiter geht als der Kommissionsvorschlag, der nur einen GAV-Abdeckungsgrad von 70 Prozent verlangte.

Nach der Brexit-Abstimmung realisierten immer mehr EU-Politiker, dass die EU auch Büezerinnen und Büezern eine Perspektive bieten muss, wenn sie nicht auseinanderbrechen will. Eine zentrale Rolle spielte Dennis Radtke, CDU-Europaabgeordneter aus dem Ruhrgebiet. Zusammen mit anderen Abgeordneten verbesserte er den Kommissionsentwurf zu den Mindestlöhnen und setzte diese Verbesserungen in den Verhandlungen mit dem Ministerrat auch durch. Dabei wurden die Abgeordneten nicht nur vom Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) unterstützt, sondern auch von der französischen Regierung. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist wahrlich kein Freund der Gewerkschaften, dennoch unterstützte er die Richtlinie wie auch der französische Arbeitgeberverband, um fairere Wettbewerbsbedingungen im EU-Binnenmarkt zu schaffen.

UNDURCHSICHTIG. Wie in der Schweiz können rechte Mehrheiten auch in der EU nicht einfach durchregieren, ohne den sozialen und territorialen Zusammenhalt zu gefährden. Gleichzeitig sind die politischen Abläufe in der EU schwer zu verstehen, da kaum einer die Verfahren der EU-Gesetzgebung ganz durchschaut. Dies musste auch Samy (Xavier Lacaille), die Hauptfigur der ausgezeichneten ARD-Serie «Parlament» erfahren, die auf humorvolle Weise die Geschichte jener erzählt, die das Schicksal von 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in der Hand haben. Obwohl Samy an der Uni viel über die EU gelernt hat, erfährt er gleich an seinem ersten Tag als Praktikant in Brüssel, dass er in keiner Weise auf seinen Posten vorbereitet ist. Wer die EU-Politik verstehen möchte, sollte sich die Serie unbedingt anschauen: rebrand.ly/parlament-serie.

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