Den vollen Teuerungsausgleich verweigern, aber sich selbst rühmen:

So heuchlerisch sind Coop & Migros

Clemens Studer

Die Grossverteiler ­ignorieren die Anliegen der Mitarbeitenden, zahlen zu tiefe Löhne – jammern aber über Personalmangel.

KEIN SCHOGGI-JOB: Tieflöhne und Stress sind die häufigsten Kündigungsgründe im Detailhandel. (Foto: Keystone)

Coop und Migros rühmen öffentlich ihre Arbeitsbedingungen. Trotzdem laufen ihnen die Mitarbeitenden davon. Jetzt zeigt eine Bankenstudie: Sie wissen genau, warum. Weil ihre Arbeitsbedingungen zu schlecht sind. Dabei haben Coop und Migros von den Massnahmen zur ­Bekämpfung der Corona-Pandemie profitiert. Dank dem unermüdlichen Einsatz ihrer Mitarbeitenden. Und auch nach dem Ende der Pandemie-Massnahmen laufen die Geschäfte blendend. Zum Teil konnten die Detailhändlerinnen sogar ihre Marge ausbauen. Bei Schweinefleisch, Käse oder Fisch sind die Preise im Einzelhandel stärker gestiegen als bei den Produzierenden. Kein Wunder, vermelden die Detailhandelsriesen Rekordumsätze. Die Mitarbeitenden hingegen verdienen nicht mehr, sondern real ­sogar weniger! Denn Coop und ­Migros verweigerten ihnen den vollen Teuerungsausgleich.

«Kein Wunder, laufen der Branche die Leute davon.»

SIE WISSEN’S

Entgegen ihren Verlautbarungen wissen auch die Detailhandels-Chefinnen und -Chefs genau, warum ihnen zunehmend die Mitarbeitenden fehlen und der Druck auf die verbleibenden weiter steigt. Das zeigt die Studie zum Detailhandel, die das Beratungsunternehmen Fuhrer & Hotz im Auftrag der Credit Suisse erstellt hat. Die Studie ­bestätigt, was die Gewerkschaften schon lange sagen: Die Arbeitsbedingungen sind so unvorteilhaft, dass geht, wer kann. Auf die Frage, welche Begründung Kündigende für ihren Entscheid anführen, melden die Personalabteilungen: Fast 70 Prozent gehen wegen «unbe­friedigender Arbeits­bedingungen». Dar­unter werden zusammengefasst: «zu hohe Arbeitsbelastung», «zu tiefer Lohn», «unpassende Arbeitszeiten», «zu viele Randstunden», «zu unstetig». Das deckt sich mit den Erkenntnissen und Forderungen der Gewerkschaften. Oder, wie es diejenigen formulieren, welche die Bankenstudie verfasst haben: «Somit scheint es keine Diskrepanz zwischen den von den Arbeitnehmern genannten Gründen und der Wahrnehmung der Arbeitgeber zu geben.»

REALE LOHNKÜRZUNG

Trotzdem scheinen die Chefinnen und Chefs das Problem so lange als möglich aussitzen zu wollen. Obwohl schon allein die de­mographische Entwicklung den Kampf um Mitarbeitende verschärfen wird. Denn der Detailhandel hat zwar im Vergleich mit anderen Branchen einen relativ hohen Anteil an jungen und jüngeren Mitarbeitenden. In den nächsten Jahren werden aber rund 20 Prozent der heutigen Erwerbstätigen in Rente gehen. Offenbar – auch das tönt die Studie an – hofft ein Teil der Verantwortlichen, mit Automatisierung und Digitalisierung (zum Beispiel Selfscanning) Mitarbeitende einzusparen. Und damit Lohnkosten und Investitionen in die Arbeitsbedingungen.

Wenig erstaunt über den Personalmangel im Detailhandel ist Unia-Tertiär-Chefin Véronique Polito. Sie sagt: «Wer nicht einmal die Teuerung ausgleicht, muss sich nicht wundern, wenn Arbeitskräfte sich andere Branchen suchen. Die Detailhandelsriesen haben es selber in der Hand, sich als attraktivere Arbeitgeberinnen zu positionieren.» Die Unia-Frau erinnert auch daran, dass die Produktivität im Detailhandel seit 2020 nach Schätzungen um 6 Prozent gestiegen ist. Und jetzt stehen die Mitarbeitenden auch noch mit weniger Geld im Portemonnaie da als vor der Coronakrise, in der sie ihren Arbeitgeberinnen Rekordumsätze beschert haben. Besonders stossend, so Unia-Frau Polito: «Im Detailhandel ist der Anteil Niedriglohnbeziehender doppelt so hoch wie im Schweizer Durchschnitt. Zwei Drittel des Personals sind weiblich. Ihre niedrigen Einkommen vergrössern die allgemeine Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern, die immer noch bei rund 20 Prozent liegt.»

Mehr zu den Löhnen im Detailhandel und in anderen Unia-Branchen hier.

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