Slam-Poetin Sandra Künzi stimmte zum grossen Frauenstreik ein und navigierte die Kulturszene durch die Coronakrise. Jetzt erhält sie den Kulturpreis der Gewerkschaften.
AUSGEZEICHNET! SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard gratuliert Preisträgerin Sandra Künzi. (Foto: Monique Wittwer)
Seit vielen Jahren verleiht der SGB einen Preis an Kulturschaffende, die sich besonders verdient gemacht haben um die Arbeitswelt und die Gewerkschaftsbewegung. An diesem Kongress ging die Auszeichnung an die Slam-Poetin, Anwältin, Gewerkschafterin und work-Frauenstreik-Kolumnistin Sandra Künzi.
Die Preisrede hielt Slam-Poet und Schriftsteller Etrit Hasler:
Etrit Hasler
«Geschätzte Damen und Herren Genossinnen, Genossen und Gesinnungsspione, geschätzte Beiwohnende, Besitzerinnen, Sitzfleischgehärtete und andere Büroweicheier, geschätzte Kolleginnen und Kollegen aller möglichen Berufsgattungen, Gattinnen und Gattungslieberhaber:innen, meine äusserst hochgeschätztesten höchstwohllöblichsten einzigartigen eigens für diesen ganz allarbeitstäglichen Freitag hier zusammengekommenen Damen und Herren und Räte und Ratten und Rattenfänger und Fangschaltungen und überbeschallten und belichtungsprivilegierten und unterprivatisierten und sponsorenfreien und cumulusprozentanteilhabenden und wehrlosen wehrfähigen und pausenlos gebärfähigen friedfertigen und doch mit auf die Strasse gehenden vereinten Vereinsmitglieder sowie ihre funktionierenden Funktionäre aller Branchen, Kantone und Regionen, ich nehme an, sogar meine eigene Gewerkschaft, die Syndicom ist da? Jä guet, dann kann man wohl wirklich sagen: Liebe alle,
Wir sind heute hier zusammengekommen, um etwas zu tun, das der Schweizer Gewerkschaftsbund relativ selten tut: Personen für irgendetwas anderes zu ehren ausser für ihre Arbeit, nachdem man sogar den Rechsteiner Paul nach zwanzig Jahren einfach hat ziehen lassen, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, dass wohl kaum einer so viel für die Ehrenrettung des Schnauzes beigetragen hatte wie er, so hat der SGB wenigstens mit der heutigen Ehrung die Gelegenheit nicht verpasst, eine Stilikone zu ehren für ihren jahrelangen Einsatz, die rote Trainerhose mit Blazer als neue Businessuniform zu etablieren.
Nein, aber im Ernst: Fangen wir noch kurz beim Grundlegenden an: Wer ist Sandra Künzi, und unter welchem Stein müsste ich gelebt haben, wenn ich in diesen Minuten diesen Namen zum ersten Mal hörte?
«Ohne dich und deine Arbeit hätten viele von uns keine mehr.»
Geboren im Jahre des damals noch ganz unironisch, aber falsch als jenes des Herrn bezeichneten 1969 im gottlosen Schwyzer Kaff Schübelbach. Und aber zum Glück bald vor dem stetig wachsenden SVP-Wähleranteil sowie einer Hilflosigkeit versprechenden Karriere als Primarlehrerin nach Bern geflüchtet, bezeichnet sich Sandra Künzi heute ebenso unironisch und völlig richtig als ein Mitglied der ersten Generation des Schweizer Poetry-Slams in der Schweiz, jener Kulturform also, die sich vor ein bisschen mehr als zwanzig Jahren in verrauchten Kellerclubs und muffigen Vorortsgalerien aufmachte, den Literaturbegriff im allgemeinen, die männlich geprägten Hierarchien und das Veranstaltungsformat der Lesung im speziellen ganz revolutionär von unten nach oben umzustürzen, herrschende Eliten zu entmachten, die Sprache zu befreien und ganz grundsätzlich saumässig viel Spass dabei zu haben und mindestens so viel Bier dazu zu trinken.
Literaturhistorisch gesprochen ging dieser Versuch «uhuere i d Hose», Literatur ist heute wie damals primär ein Werkzeug, um unbequeme, aufmerksamkeitsgestörte Jugendliche in den Schulen zum Stillsein zu bewegen und nicht ein emanzipatorischer Türöffner, die Hierarchien sind nach wie vor hauptsächlich von alten weissen Männern geprägt, und auch wenn es natürlich ein schönes Zeichen ist, wenn eine nonbinäre Person den Deutschschweizer Buchpreis bekommt, aber das ausgerechnet in der NZZ abgefeiert zu lesen braucht etwa gleich viel Mentalgymnastik, wie sich über die Menschenrechtslage in Katar aufzuregen, ohne vor vier Jahren über die Verbrecherseilschaften von Putin und Infantino auch nur ein Wort verloren zu haben – aber ich schweife ab.
Was Poetry-Slam in den letzten zwanzig Jahren jedoch erreicht hat, ist das Folgende: Zumindest in der Deutschschweiz gibt es praktisch keine Comedians, Cabaretist:innen und Bühnenpoet:innen mehr, die nicht durch die Poetry-Slam-Szene professionalisiert, sozialisiert und nicht zuletzt arbeitstechnisch geprägt wurden – Renato Kaiser, Patti Basler, Kilian Ziegler, Rebekka Lindauer, Gabriel Vetter, Hazel Brugger, Matto Kämpf, Lara Stoll, meine Güte, auf SRF gibt es kaum mehr eine Sendung, inklusive der Arena, die man einschalten könnte, ohne dass nicht noch irgendein:e Slam-Poet:in als Stimmungsaufheller dazu gestellt wird.
Sandra Künzi
Und Sandra war die Erste. Sie war die erste Schweizer Slam-Poetin überhaupt, die im Final einer deutschsprachigen Meisterschaft stand, als einzige Frau, als einzige Schweizerin. Sie legte den Boden für all jene, die nach ihr kamen. Und wenn Sie, geschätztes Publikum, jetzt die Frage stellen, ja warum gehört denn Sandra Künzi nicht auch zu jenem erlauchten Kreis der aus Film, Fernsehen und plapprigen Diskussionsrunden bekannten Personen – aka Abziehbilder – der Popkultur?
Die Antwort ist einfach: Weil sie Kulturarbeit eben als Arbeit ernst nimmt – und das schon seit Jahrzehnten. Als Teil der Autorinnengruppe Almösen sowie der Spoken-Word-Reihe «Tittanic» trat sie Stadt und Kanton Bern so lange auf die Flossen, bis auch die alten Herren, die damals noch die Fördergremien exklusiv besetzten, bereit waren, sich ein paar grundsätzlichen Fragen zu stellen, zum Beispiel der Frage, ob es möglich und/oder sittlich sei, Mutter UND Kulturschaffende zu sein? Oder, nicht ganz so banal, aber mindestens so unrealistisch: Ob es eigentlich irgendjemanden gebe, der die Arbeitgeberanteile auf den Sozialversicherungsabzügen von Kulturschaffenden bezahle?
Und sehen Sie: Während wir andere Slam-Poet:innen noch an den Afterparties herumsumpften und uns in unrealistischen Illusionen darüber ergingen, dass wir mit unseren Bühnenprogrammen und Plattenverträgen und Filmrollen dereinst Millionen verdienen würden, hat sie gebüglet – und zwar nicht, wie das die selbsterklärten Büezerbueben gern tun, sondern richtig. So machte sie ihr Anwaltspatent und schlug sich mit Urheber- und Vertragsrecht herum, damit wir andere nicht mussten, damit wir jemanden hatten, den wir anrufen konnten, wenn wir eine Frage dazu hatten – und Fragen hatten wir. So viele, dass Sandra irgendwann bemerkte, dass es wahrscheinlich einfacher für sie wäre, wenn sie das Präsidium eines Berufsverbandes übernehmen würde, anstatt dass alle Fragen dauernd bei ihr im Anwaltsbüro landen – an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an den Verband der Theaterschaffenden Tpunkt, diesen Gedankenblitz zuerst und gerade noch rechtzeitig gehabt zu haben.
Kein Wunder also – oder vielleicht für uns andere ein kleines – war sie dann auch zur Stelle, als die Schweizer Kulturbranche jemanden brauchte, die uns durch das wohl einschneidendste Ereignis ihrer Geschichte, die Covid-Pandemie und die damit verbundenen staatlichen Massnahmen zur Bekämpfung ebendieser Pandemie, begleiten würde. Sandra Künzi war ab Tag 1 auf Platz, wie man das so schön militärisch formulierte in diesen absurden Tagen. Ihr Handy war die vielleicht effizienteste Kommunikationszentrale zwischen Bundesverwaltung, Verbänden, Gewerkschaften, Kulturschaffenden und Parlamentarier:innen. Mit dem Bühnenbewusstsein der Slam-Poetin, die uns immer und immer wieder einhämmerte: Wenn du deine Message nicht in drei Minuten rüberkriegst, hast du schon verloren, weil hey: Wir müssen Albert Rösti erklären, worum es geht. Mit der sprachlichen Präzision der geübten Juristin. Und nicht zuletzt mit der ungebrochenen Punkattitüde und dem entsprechenden Leitsatz: Es geht schon, wenn man nur genug will.
Liebe Sandra: Die Schweizer Kultur hat in den letzten zweieinhalb Jahren eine Berg-und-Tal-Fahrt zusammen mitgemacht. Das Bewusstsein für die prekäre Situation der Kulturschaffenden wurde in einer Art geschärft, die wir zuvor für undenkbar gehalten hätten. Sätze, die du in der Pandemie immer und immer wiederholt hast, zum Beispiel «Wieso sollen Kulturschaffende ihre Arbeitsweise dem Sozialversicherungssystem anpassen und nicht umgekehrt?», werden inzwischen ganz selbstverständlich von Bundesräten wiederholt. Aber die Probleme sind noch längst nicht gelöst. Knapp die Hälfte der Kulturschaffenden leben am oder unter dem Existenzminimum. Die wenigsten von uns werden für ihre Arbeit anständig bezahlt – nicht zuletzt, weil wir immer und immer wieder überhaupt den Menschen erklären müssen, dass die Arbeit, die wir leisten, überhaupt Arbeit ist. Harte, anspruchsvolle Arbeit – und nicht einfach ein bisschen Selbstbefriedigung fürs Ego.
Du hast der WOZ während der Covid-Pandemie einmal gesagt, dass es eine vollkommen legitime Frage sei, ob es die eigene Arbeit überhaupt brauche. Die vorliegende Auszeichnung – gerade aufgrund ihres Absenders – ist eine unmissverständliche Antwort auf die Frage, wenn du dir sie selbst wieder einmal stellst. Und ein Dankeschön. Ja, es braucht deine Arbeit. Und ohne dich und deine Arbeit hätten viele von uns keine mehr.
Und jetzt, wo all das gesagt ist, geschätzte Damen und Herren, bitte lassen Sie mich auch noch erwähnen, dass dieser Preis nicht nur ein Dankeschön sein soll, sondern auch eine Verpflichtung. Sandra Künzi ist nicht nur eine engagierte Kämpferin für die gewerkschaftlichen Anliegen der Kultur – sie ist auch eine brillante Künstlerin. Und wenn irgendjemand in den kommenden Jahren es verdient hätte, nur noch vor vollem Haus zu spielen, dann sie. Von dem her: Gehen Sie gefälligst ihre Auftritte schauen. Allein oder mit Künzi und Frei. Als Auftragspoetin, Zusammenfasserin oder Moderatorin. Als Bühnenkünstlerin oder als Buchautorin oder auch als Veranstalterin. Und kaufen Sie ihre Bücher. Weil über Arbeit reden ist einfach. Aber ohne Publikum haben wir Kulturschaffende keine Arbeit.
Ich danke Ihnen.»