Irans Frauen legen das Kopftuch ab – doch es geht um noch viel mehr:

«Frau, Leben, Freiheit!»

Oliver Fahrni

Die Revolte der iranischen Jugend dauert schon fast drei Monate. Streikende Arbeitende und kritische Stimmen im Regime eilen ihr jetzt zu Hilfe. Wird die Revolte zur Revolution? Eine Einordnung.

REVOLTE: Unter Lebensgefahr und angeführt von Frauen versucht die iranische Jugend, die Fesseln zu sprengen. (Foto: Dukas)

Ein gewöhnlicher Morgen in der U-Bahn von Teheran. Dicht gedrängt warten Pendler auf den nächsten Zug. Plötzlich ruft eine Frau: «Tod dem Diktator! Tod dem Ayatollah Khamenei!» Andere Frauen und Männer stimmen ein, ein spontaner Sprechchor brandet auf.

Khamenei, 83, dem da der Tod gewünscht wird, ist der Staatschef von Iran. Vor 33 Jahren hatte er Ayatollah Khomeini beerbt, den Gründer der Islamischen Republik. Das Handy-Video aus der Metro machte schnell die Runde. Eine befreundete Ärztin aus Isfahan hat es dem Autor geschickt, zusammen mit einem Clip aus der Stadt Mashad. Er zeigt eine junge Frau mit wehender Mähne, die an eine Mauer schreibt: «Das ist keine Demonstration. Das ist eine Revolution!» Im Hintergrund tönt die persische Version von «Bella Ciao». Kommentar der Ärztin: «Ob es eine Revolution wird? Wir werden sehen. Aber alle hier spüren, dass diesmal etwas anders ist. Ein Bruch ist geschehen. Hinter diesen Oktober kann Iran nicht mehr zurück.»

VERHAFTUNG UND FOLTER

Seit mehr als sieben Wochen ist die iranische Jugend im Aufruhr. Zornig, zu allem entschlossen. Sie will dieses Regime weghaben. Es ist die Revolte der «dritten Generation». 80 Prozent der knapp 89 Millionen Iranerinnen und Iraner sind nach der Revolution geboren. Noor, eine achtzehnjährige IT-Studentin der international renommierten Sharif-Universität für Technologie in Teheran, weiss, wie man die Internet-Zensur technisch umgeht. In einem kurzen Videodialog fasst sie ihre Gefühlslage: «Vielleicht werde ich bei der nächsten Demonstration erschossen. Doch gehe ich nicht hin, ist mein Leben auch zu Ende. Dieses Regime hat uns jede Zukunft gestohlen.»

Junge Frauen wie Noor sind die Vorhut dieser Revolte. Mit dem Ruf «Frau, Leben, Freiheit» stellten sie sich in 70 Städten der Polizei entgegen. Frauen verbrennen öffentlich ihre Hijabs (Koptücher), Frauen schneiden sich vor laufenden Kameras die Haare ab, Schülerinnen reissen Khamenei-Bilder von der Wand und treiben ­regimetreue Lehrer aus ihren Schulen. Was da geschieht, sagt die Poetin und politische Essayistin Fatemeh Shams, «dieser Mut, diese Vorstellungskraft, die Stärke ihrer Ambition, übersteigt die Vorstellung meiner Generation. Für uns wäre es undenkbar gewesen, Freudenfeuer mit unsern Kopftüchern anzuzünden.» Shams ist 39.

Was hier geschieht, ist nicht in erster Linie eine feministische Revolution, sondern der Aufstand einer Nation.

SPEKTAKULÄRE AKTIONEN

Khamenei und der gewählte konservative Präsident Ebrahim Raisi reagieren mit extremer Brutalität. Polizei und Milizen prügeln, verhaften, schiessen mit Gummikugeln und scharfer Munition, dringen in Schulen, Unis und Spitäler ein. Mindestens 250 Menschen haben sie bereits umgebracht (vorsichtige Schätzung, Stand 28. 10.). Tausende wurden verhaftet, Ungezählte sind «verschwunden». Als Mitte Oktober 400 verhaftete Demonstrierende wieder freikamen, berichteten sie von Folter und Vergewaltigungen.

Unmittelbarer Auslöser der Revolte war die Ermordung der 22jährigen Kurdin Mahsa Amini durch die Sittenpolizei. Amini trug angeblich ihren Hijab nicht wie vorgeschrieben. Am 16. September starb sie an schweren Kopfverletzungen. Sofort brannte das iranische Kurdistan. In dieser Region kämpfen verschiedene Gruppen und Parteien für die Autonomie, teilweise militärisch und von den USA unterstützt. Die Strategie, regionale Konflikte zu schüren, soll Iran destabilisieren.

In Kurdistan sind Repression und Diskriminierung durch das Regime seit Jahren besonders scharf. Diesmal aber blieb der Tod einer Kurdin keine kurdische Angelegenheit. Nach nur drei Tagen hatte der Protest bereits das ganze Land erfasst, sogar Städte wie Qom, wo die grossen theologischen Universitäten des schiitischen Islam liegen, oder Mashad, das Zentrum der finanziell mächtigen religiösen Stiftungen. Seither flammt die Revolte immer wieder neu auf, selten in Massendemonstrationen, meist in vielen kleineren, mobilen Flashmobs und anderen spektakulären Aktionen. Eine Gruppe, die sich «Alis Gerechtigkeit» nennt, hackte und kaperte das staatliche Fernsehen mit einer Protesteinspielung («Khamenei hat Blut an den Händen»). In Teheran liefen Männer der Polizei entgegen, fielen auf die Knie, rissen ihre Hemden auf und riefen: «Schiesst!»

STREIKWELLEN

Weil der Widerstand bisher keine politischen Strukturen und Führungsfiguren hervorgebracht hat, ist er für das Regime nur schwer zu packen. Zunehmend nervös beobachten die Berater des Präsidenten und die mächtigen «Revolutionsgarden», die längst ein Staat im Staat sind, wie die Bewegung breiter wird. Erst gingen die gewerkschaftlich gut organisierten Lehrerinnen und Lehrer in Streik. Sie hatten schon im Januar für bessere Löhne demonstriert. Basari, die eigentlich systemtreuen Händler des Basars, machten ihre Läden tageweise dicht. Busfahrerinnen, Trucker, Bauarbeiter, Ärztinnen und Ärzte folgten. Am 10. Oktober begannen die Streiks in der wirtschaftlich wichtigen Erdöl- und Gasindustrie (siehe unten Streik an Teherans Lebensader). Das waren starke Signale: Basari und streikende Ölarbeitende hatten 1979 den Sturz des feudalistischen Schah-Regimes eingeleitet.

Genauer betrachtet sind die Arbeitskämpfe und Proteste in den vergangenen drei Jahren nie wirklich abgerissen. Immer stärkere Teile der iranischen Gesellschaft drängen auf einen ­fundamentalen Systemwechsel. 300 Uni-Professoren unterschrieben einen Protestaufruf, Sportlerinnen, Fussballer, Filmemacherinnen, Musiker wie der Protestrapper Salehi unterstützen den Aufstand. Und die Listen der Getöteten zeigen: Von Beginn weg hatten sich viele junge Männer dem Kampf der Frauen angeschlossen.

SANKTIONEN TREFFEN DIE BEVÖLKERUNG

Kein Wunder. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 23 Prozent, die Armutsquote bei über 40 Prozent. Unter der hohen Inflation (43 Prozent derzeit) wächst sie rasch. Diese kritische soziale, wirtschaftliche und politische Lage ist zum einen den US-Sanktionen geschuldet, zum anderen ist sie hausgemacht.

Die amerikanische Blockadepolitik (mal offen, mal maskiert führen die USA seit 43 Jahren Krieg gegen Iran) bindet das grosse Land mit seinem enormen ökonomischen und kulturellen Potential immer wieder zurück. Sanktionen zielen auf die Bevölkerung, nie auf die Machthaber, die in den offiziellen Sanktionslisten stehen. Die Oberschicht hat sich über die letzten Jahre enorm bereichert. Vor allem die Militärs – zuvorderst die Chefs der Revolutionsgarde – haben im Rahmen von Privatisierungen und Kriegswirtschaft die Kontrolle über weite Teile der Wirtschaft gekapert. Verschärft durch die rabiat neoliberale Politik der Regierung, verarmten die breiten Mittelschichten, die nach dem Ende des irakischen Aggressionskrieges (1980 bis 1988, 1 Million Tote) zu einigem Wohlstand gekommen waren. Ihr Abstieg hatte schon 2009 die «Grüne Bewegung» ausgelöst, einen Aufstand dieser Mittelklasse.

ETHNISCH VIELFÄLTIG: Iran bildet die Brücke zwischen Nahem Osten und indischem Subkontinent. Es bindet mit 89 Millionen Menschen viele Ethnien ein. Die iranischen Kurden ringen für eine autonome Region. (Grafik: work)

ESKALATION DURCH TRUMP

Das Verhältnis zum Westen prägt die innenpolitischen Machtverhältnisse stark. Iran ist eine ­Republik mit komplexen Regeln, (noch) keine Militärdiktatur wie Nachbar Pakistan und kein effizient durchkontrollierter Einparteienstaat wie China. Phasen der Repression weichen regelmässig gesellschaftlichen Kompromissen. Seit 1979 waren die Iranerinnen und Iraner 32 Mal an der Urne. Wirklich frei waren die Wahlen selten, doch regelmässig brachten sie auch Reformkräfte an die Macht. Wer etwa 2015, nach dem Abkommen über das iranische Atomprogramm, in Teheran war, erlebte rege öffentliche Debatten und animiertes Kultur- und Gesellschaftsleben. Die Sittenpolizei wagte sich nicht mehr aus ihren Kasernen, die Revolutionsgarden waren im Irak, in Syrien und Libanon mit dem Kampf gegen den Islamischen Staat beschäftigt. Doch 2018 zerriss US-Präsident Donald Trump den Atomdeal, verschärfte die Sanktionen, die Europäer kuschten, und zum Jahresbeginn 2020 liess Trump den militärischen Chefstrategen von Iran, General Ghassam Soleimani, umbringen. Sofort verhärtete sich das Teheraner Regime. 2021 wurde Raisi gewählt, der Mann der reaktio­närsten Fraktionen – bei historisch tiefer Stimmbeteiligung.

So hat sich eine brisante Mischung zusammengebraut: Die Wirtschaftskrise, die soziale Krise, die US-Blockade und der beschleunigte Fall der Mittelklasse kommen mit der Revolte einer Jugend zusammen, die sehr gut ausgebildet ist, aber weder Jobs noch Lebensperspektiven findet. Und dies alles unter einem Regime, das die Sittenpolizei wieder auf die Strassen schickt.

INNERER MACHTKAMPF

Kein Zufall, hat sich der Aufstand am Kopftuch entzündet. Alle autoritäre Ideologie, nicht nur in der islamischen Welt, ist um die Unterdrückung der Frau gebaut. Kriselt eine Herrschaft, dann erst recht. Staatschef Khamenei macht die Verhüllung der Haare zum einzigen, alles entscheidenden Streitpunkt. Er schwenkt den Fetzen Tuch wie eine Fahne. Irans Frauen täuscht er damit nicht mehr: «Lass mich mit dem Gerede vom Hijab in Ruhe!» sagte dieser Tage eine Soziologin und linke Feministin, «wir iranische Frauen stehen zuvorderst, weil wir heute besser ausgebildet und strukturiert sind als die Männer. Wir kämpfen um unsere Rechte. Aber was hier geschieht, ist nicht in erster Linie eine feministische Revolution, sondern der Aufstand einer ganzen Nation, quer durch alle Schichten, gegen ein korruptes System. Wir wollen leben.» Später schiebt sie per SMS nach: «Übrigens haben hier nicht mehr die Turbane das Sagen, sondern die Uniformmützen.» Also die Militärs.

Inzwischen melden sich immer mehr kritische Stimmen aus dem Innern der Macht, die bezweifeln, dass diese Krise mit Polizeigewalt gelöst werden könne. Sie mahnen Reformen an. Im Hintergrund zeichnet sich der Machtkampf um die Nachfolge des greisen, kranken Khamenei ab. Hossein Salami, Chef der Revolutionsgarde, die sich bisher nicht an der Unterdrückung der Revolte beteiligt hatte, meldete jetzt seine Ambitionen an in Form einer Drohung. Am 29. Oktober schrieb er: «Heute ist der letzte Tag, da Demonstrationen geduldet werden.»


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