175 Jahre Bahn in der Schweiz: Zum Start ein privatwirtschaftliches Schlamassel – doch mit der Verstaatlichung stellte das Volk die Weichen richtig

Zug um Zug auf die richtige Spur

Ralph Hug

Vor 175 Jahren fuhr der erste Zug in der Schweiz. Doch die Privatbahn-Unternehmer richteten ein Chaos an. Und so entstanden durch Verstaatlichung die SBB. Erst dann lief’s rund. work zeigt neun Stationen aus der Erfolgsstory des sozialsten aller Transportmittel.

1. Spanische Brötli

Bis 1847 gab es in der Schweiz nur staubige Landstrassen. Doch dann kam die Spanisch-Brötli-Bahn, die erste Dampfbahn ausschliesslich auf Schweizer Boden. Sie transportierte gut betuchte Kurgäste von Zürich nach Baden. Zurück kam sie mit einem speziellen Süssgebäck aus Badens Bäckereien. Daher ihr Spitzname. Die Bahn war ein Vergnügen für die Oberschicht. Die arbeitende Bevölkerung hatte nichts ­von ihr.

2. Oligarch Escher

Die Eisenbahn galt Mitte des 19. Jahrhunderts in Kapitalistenkreisen als das «ganz grosse Ding». Fette Gewinne winkten am ­Horizont. Wie Pilze schossen private Bahnfirmen aus dem Boden, unterstützt von profitsüchtigen Kantonen. Ihre Lobbyisten setzten 1852 im ersten Eisenbahngesetz durch, dass alle Bahnen privat sein sollten. Ein Fehlentscheid. Denn es entstand ein Chaos von unkoordinierten Strecken. Die Szene dominierte «Eisenbahnkönig» Alfred Escher aus Zürich, der erste Oligarch der Schweiz. Seine Nordostbahn fuhr von Oerlikon über Winterthur nach Romanshorn. Sein Machtnetz, genannt das «System Escher», war weit verzweigt und berüchtigt.

Bald gingen die Privatbahnfirmen reihenweise pleite, denn die Kosten waren viel zu hoch. Der Staat musste ran, um Ordnung zu schaffen. In der Volksabstimmung von 1898 votierte eine überwältigende Mehr­heit für die Verstaatlichung: Neun Privatbahnen wurden zu den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) vereinigt. Eine Sensation! Das Gemeinwohl triumphierte über die geballten Kapitalinteressen. So zeigt gerade die SBB-Geschichte, dass der «demokratische ­Sozialismus» funktioniert. Jedenfalls der auf Schienen.

Zum Landesstreik 1917 erschienen 97 Prozent aller Zürcher Bähnler nicht zur Arbeit.

3. Schüsse in Göschenen

Der Blutzoll war indessen hoch. Beim Bau des Gotthardtunnels (1872 bis 1882) kamen 199 Arbeiter zu Tode, vor allem Mineure aus Italien. Beim Simplontunnel 1905 liessen 67 ihr Leben, beim Durchstich durch den Lötschberg 1913 nochmals 64. Kaum ein Job war gefährlicher als die Chrampferei im Tunnel: Man konnte von Felsen erschlagen, von Dynamit zerrissen oder von Lokomotiven zerquetscht werden. Miese Löhne, schäbige Unterkünfte, lausiges Essen, fehlende Sicherheitsmassnahmen und der autoritäre Ton von Ober­ingenieur Ernest von Stockalper führten 1875 in Göschenen zum grossen Streik am Gotthard. Die wütenden Mineure warfen Steine. Polizei und Militär aus Altdorf fuhren auf und schossen. Vier Büezer blieben tot liegen. Die Landjäger kamen dagegen straffrei davon.

4. Lenin an Bord

Der wohl berühmteste SBB-Fahrgast war ­Revolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin. Nur kannten ihn damals erst wenige. Am 9. April 1917 bestiegen er und 31 weitere Exilrussen im Zürcher Hauptbahnhof einen Wagen 3. Klasse Richtung Schaffhausen. In St. Petersburg angekommen, führte Lenin die bolschewistische Oktoberrevolution zum Sieg über das marode Zarenregime. Lenin & Consorten brauchten kein SBB-Billett. Ihr Transport war höchste Geheimsache, eingefädelt von den Sozialistenführern Robert Grimm und Fritz Platten sowie von FDP-Bundesrat Arthur Hoffmann.

5. Wenn die Bahn streikt, steht alles still

Ein landesweiter Streik ohne SBB? Geht nicht. 1918 spielte die Bundesbahn beim ­Generalstreik eine zentrale Rolle. Denn auch ein Grossteil der Bähnler hatten die Nase voll. Sie rebellierten ganz speziell gegen überholte Hierarchien und ungerechte Löhne. In den Zürcher SBB-Werkstätten ­blieben 97 Prozent dem Arbeitsplatz fern. Nichts ging mehr: kein Zug, kein Transport, Fahrpläne blieben Makulatur. Weil der Bahnstreik so wirkungsvoll war, rief der Bundesrat für die SBB umgehend den Kriegsbetrieb aus. Mit der Folge, dass streikende Bähnler vors Militärgericht mussten. 127 wurden verurteilt.

6. SBB machen Design

Im 20. Jahrhundert standen die Zeichen der SBB auf Ausbau. Ab 1919 wurde das Netz elektrifiziert. Man gab sich modern, sogar im Design. Mit der Bahnhofsuhr im Bauhaus-Stil schuf Gestalter Hans Hilfiker 1944 einen zeitlosen Klassiker.

Eine überwältigende Mehrheit votierte 1898 für die Bahn-Verstaatlichung.

7. Ein Krokodil auf Schienen

Legendäre Loks wie das mächtige Krokodil (Ce 6/8), Züge wie der rote Trans-Europ-­Express (TEE) oder der luxuriöse Orientexpress von Paris nach Istanbul fuhren an. Ab 1946 rollte der meistgebaute Lokomotivtyp, die Re 4/4. Allem Fortschritt zum Trotz blieb die Bahn eine fahrende Klassengesellschaft. Bis 1956 gab’s drei Klassen, dann wurde die Luxusklasse im Zuge eines allgemeinen Trends in Europa abgeschafft.

A propos günstig: Unter dem Schock des Waldsterbens reduzierte das Parlament 1987 den Preis des Halbtaxabos radikal von 360 auf 100 Franken. Ein Volltreffer, denn die Verkaufszahlen stiegen sofort steil an, von 660’000 auf über zwei Millionen. Das Halbtaxabo wurde zum Knüller. Dabei existierte es schon seit 1890. Noch älter ist sogar das Generalabo (GA), es wurde bereits 1875 eingeführt.

8. Frau im Führerstand

Lange Zeit fristeten Frauen bei den SBB ein Schattendasein, meist als Barrierenwärterinnen, im Büro oder am Billettschalter. Die ­Bundesbahn war überwiegend ein Männer­betrieb. Erst ab 1974 konnten Frauen eine ­reguläre SBB-Lehre als Betriebsdisponentin machen. Weil es an Personal im Führerstand fehlte, waren plötzlich auch Frauen gefragt. So wurde Renate Jungo 1991 die erste Lok­führerin.

9. Wut in Bellinzona

2008 starteten die SBB-Büezer in den Werkstätten von Bellinzona ihren legendären ­Arbeitskampf. Der Streik unter dem Motto «Giù le mani!» (Hände weg!) dauerte 33 Tage und zwang den neuen SBB-Chef ­Andreas Meyer in die Knie (Seite 14). Dieser wollte den Lokunterhalt vom Tessin in die Westschweiz verlegen. Aber er machte die Rechnung ohne den Wirt. Die Jobs blieben erhalten. Meyer stand mit ­einem ramponierten Image als Manager ohne Bodenhaftung da.

2011 rebellierten die Arbeiter beim Bau des Durchgangsbahnhofs im Zürcher HB. Ihnen tropfte der Inhalt der vorbeifahrenden Plumpsklos auf den Kopf. Verantwortlich für diese üble Sauce: derselbe CEO. 2020 schied Meyer als Multimillionär aus dem Amt. Als Topverdiener im Bundesdienst garnierte er einen umstrittenen, hohen Lohn von rund ­einer Million Franken pro Jahr.

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