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Sie putzen die Schweiz

Ralph Hug

In der Schweiz putzen vor allem Migrantinnen und Migranten. Autorin Marianne ­Pletscher hat mit ihnen gesprochen und schildert Lebens­geschichten, die unter die Haut gehen.

REINIGERIN NURA B.: Nach dem Krieg in Ex-Jugoslawien floh sie mit ihrer Familie
von Bosnien in die Schweiz. (Foto: Marc Bachmann)

Bei Autorin Marianne Pletscher stehen die Menschen im Vordergrund. Die bekannte Journalistin und Dokumentarfilmerin ist eine Spezialistin für Schicksale und Lebensgeschichten. Und solche fand sie zuhauf in der Reinigungsbranche. Denn hier arbeiten sehr viele Migrantinnen und auch einige Migranten. Was diese zu erzählen haben, geht unter die Haut.

So Nura B. (52). Die Bosnierin hat den Krieg in Ex-Jugoslawien durchgemacht. Sie lebte in einem Dorf direkt neben Srebrenica. Dem Ort, der zum Symbol für den jüngsten Massenmord in Europa wurde. Sie musste flüchten. «Einmal stand ich zwei Meter von Mladic entfernt!» so Nura. Blankes Entsetzen im Gesicht, als sie Autorin Marianne Pletscher davon erzählt. General Ratko Mladic ist der Hauptverantwortliche für das monströse Kriegsverbrechen, jetzt zu lebenslanger Haft verurteilt. Weil Nura nach dem Krieg für ihre Familie keine Existenz mehr sah, suchte sie Asyl in der Schweiz. Und so begann ihre Putzgeschichte.

«Einmal stand ich zwei Meter von Ratko Mladic entfernt!»

UNSICHTBAR ALS SANS-PAPIERS

Oder Habtemariam T. Er ist Eritreer und jetzt 33 Jahre alt. Wie so viele seiner Landsleute floh er vor der Zwangsrekrutierung des Regimes. Er sagt: «Man kann nicht Gott dienen und für eine Diktatur Militärdienst machen.» Habtemariam ist zwar Bauer, aber auch Seelsorger der eritreisch-orthodoxen Kirche. Er wurde im Dorf, in dem er aufwuchs, zum Priester ausgebildet. Seine Flucht über den ­Sudan und Libyen war mehr als abenteuerlich. Dank Schleppernetzwerken und ausreichend Geld gelang es ihm, in einem kleinen Boot mit 150 Personen übers Mittelmeer nach Italien zu kommen. «Ich sprach die ganze Zeit mit Gott, und er hat immer geholfen auf der ganzen Reise.» Jetzt arbeitet Habtemariam mal als Reiniger im Zürcher Schulhaus Fluntern, mal als Pizzakurier. Noch fehlt ihm eine feste Stelle. Gerne würde er zurück in die Heimat. Aber nur ohne Diktatur. Die Aussichten sind schlecht.

Auch Anna, heute 64 Jahre alt, hat ein schweres Leben hinter sich. Sie kommt aus Südamerika. Mehr dürfen wir nicht wissen. Denn sie ist illegal in der Schweiz. Eine Sans-papiers. Sie hat gelernt, nicht aufzufallen, unsichtbar zu sein. Einmal ging es schief: Ein Polizist kontrollierte sie und bemerkte die abgelaufenen Papiere. Anna ging in die Offensive und erzählte ihm ihre Geschichte – Verzweiflung, Flucht vor der Armut, Hoffnung auf ein besseres Leben. Das ging dem Beamten ans Herz, er liess sie ohne Anzeige laufen. Anna putzt seit Jahren in der Schweiz, musste viel untendurch und geriet oft in ausweglose Situationen. Doch immer wieder rappelte sie sich auf. Ihre Heimat sind das Colectivo Sin Papeles, eine Gruppe von spanischsprechenden Frauen mit dem gleichen Schicksal, und eine Kirchgemeinde, die ungenannt bleiben muss. Per Whatsapp kommuniziert sie mit ihrer Tochter zu Hause. Die jüngste Enkelin hat sie noch nie getroffen.

VIELE MISSBRÄUCHE

Es sind solche Lebensgeschichten, die Marianne Pletschers Buch «Wer putzt die Schweiz?» so spannend machen. «Migrationsgeschichten mit Stolz und Sprühwischer», wie es im Untertitel heisst. Dass die Schweiz so blitzblank ist, verdanken wir Migrantinnen und Migranten, die diesen ­Service täglich verrichten. Zu Tieflöhnen. Pletscher referiert in ihrem Buch viele Daten und Fakten zum Reinigungswesen, einer prekären Branche mit vielen Missbräuchen. Sie porträtiert auch drei Firmen, die es fair und ohne Ausbeutung versuchen, etwa Etcetera in Zürich oder Proper Job in Bern. Viel zum sehr schön aufgemachten Band tragen die Fotos von Marc Bachmann und ein Beitrag des engagierten Flüchtlingsanwalts Marc Spescha bei. Und nicht zuletzt glänzt das Buch mit einem literarischen Stück der Schriftstellerin Dragica Rajcic Holzner. Sie war einst selbst Putzfrau und auf der Suche nach einem besseren Leben.

Marianne Pletscher, Marc Bachmann, Wer putzt die Schweiz? 250 Seiten, Limmat-Verlag,

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